Er mußte mich erkannt haben, denn er zügelte sein Pferd und kam langsam weiter auf mich zu. In Hörweite rief er:
„Bitte klettern Sie nicht wieder dort hinauf.“
Dann stieg er ab und kam näher. Etwas erstaunt bemerkte ich, daß er diesmal einen Schimmel ritt. Er konnte nicht unvermögend sein. Und wahrscheinlich lebte er doch irgendwo in der Gegend und war nicht nur auf der Durchreise. Er lächelte, ein wenig schief, wie ich fand, fast schelmisch, und sagte, als er neben mir stand:
„Guten Tag! Welch ein netter Zufall. Werden wir uns jetzt jedes Mal treffen, wenn ich ausreite?“
Deswegen also war ich ihm nicht mehr begegnet! Verwundert erwiderte ich:
„Reiten Sie denn so selten aus?“
Sein Lächeln verdüsterte sich etwas.
„Ja… ich habe nicht oft die Gelegenheit dazu.“
Verzweifelt suchte ich nach einem weiteren Anknüpfungspunkt, um das Gespräch nicht ersterben zu lassen. Darin war ich nicht besonders geübt:
„Das… das ist bedauerlich, sehr bedauerlich... Vielleicht sollten Sie es statt dessen mit einem Spaziergang versuchen?“
Wie einfältig konnte ein Mensch sein? Wenn er keine Zeit zum Ausreiten hatte, wie sollte er sie dann zum Spazierengehen haben? In Gedanken schalt ich mich ob meiner Schwerfälligkeit. Doch er schien meine Bemerkung nicht übel zu nehmen, denn er antwortete:
„Ja, vielleicht sollte ich es versuchen. Wollen wir ein wenig gehen?“ Mit seinen tiefblauen Augen sah er mich forschend an, und ich konnte diesem Blick nicht lange standhalten. So sehr fesselte mich seine Erscheinung, daß ich schließlich zustimmend den Kopf senkte, um ihn nicht in einem fort anzustarren. Das Blut schoß mir in den Kopf, mir wurde heiß. So oder ähnlich hatte ich mir den Prinzen meiner Träume ausgemalt. Immer in dem Bewußtsein, daß er niemals eine wie mich erhören würde. Er war sehr groß und schlank, mit hellbraunen, leicht gewellten Haaren, blauäugig, einfach, aber elegant gekleidet… Er kam auf seinem Roß und rettete mich – wovor auch immer... Dann brachte er mich auf sein Schloß, wo wir für ewige Zeiten glücklich zusammen leben würden. – Elizabeth, nimm dich endlich zusammen und sieh die Sache realistisch!
Mit Mühe kehrte ich in die Wirklichkeit zurück und überlegte, wie ich das Gespräch wieder aufnehmen konnte, während wir langsam in Richtung Sunderley gingen:
„Stammen Sie hier aus der Gegend? Ich habe Sie noch nie hier gesehen.“ Wieder eine äußerst grob formulierte und indiskrete Frage. Auf die Zunge hätte ich mir beißen sollen! Er warf mir einen Blick zu, den ich nicht ganz deuten konnte. Als er nicht sofort antwortete, bohrte ich beinahe hilflos weiter: „Oh, vielleicht sind Sie ja unser Nachbar, Mr LeFroy?“
Ein wenig erstaunt sah er mich an und antwortete:
„Nein, ich lebe im Dorf.“ Nach einer Pause setzte er hinzu: „Sie erwähnten den Namen LeFroy. Ist das nicht der Besitzer von Stonehall? Anscheinend haben Sie ihn noch nicht kennengelernt?“
„Nein, aber das wird wohl morgen auf dem Ball auf Stonehall geschehen. Wissen Sie, die Familie lebt schon so viele Jahre dort, aber wir haben sie noch nie zu Gesicht bekommen. Daher vermutete ich, daß Sie es vielleicht sein könnten…“
Er schüttelte den Kopf, ging jedoch sonst nicht weiter auf meine Bemerkung ein, sondern schwieg und schien düstere Gedanken hinter seiner noch glatten Stirn zu wälzen. Wie alt mochte er sein? Vielleicht ein paar Jahre älter als ich… Aber warum war er so schweigsam? Er hatte doch das Gespräch gesucht! Wieder versuchte ich, die Unterhaltung fortzuführen:
„Ich komme nicht oft nach Langton Green. Wohnen Sie direkt im Dorf oder etwas außerhalb?“
Anscheinend immer noch gedanklich abwesend antwortete er:
„Etwas außerhalb.“
Wieder herrschte Schweigen. Meine Gedanken sprangen von einem Thema zum anderen. Was sollte ich nur tun? Wir näherten uns Sunderley, der Wald lichtete sich. Plötzlich schien er aus seinen Überlegungen zu erwachen. Abrupt blieb er stehen und sagte mit gesenktem Blick:
„Unsere Wege trennen sich hier. Ich muß mich von Ihnen verabschieden. Auf Wiedersehen.“ Nach einer knappen Verbeugung stieg er auf sein Pferd und trieb es zur Eile an, in die Richtung, aus der er gekommen war. Zwar sah ich ihm nach, doch nach wenigen Minuten hatte ich ihn aus den Augen verloren.
Traurig nahm ich die letzten Schritte nach Hause. Was hatte ich nur falsch gemacht? War ich zu neugierig gewesen, hatte ich zu viele Fragen gestellt? Wahrscheinlich hatte ich ihn damit abgeschreckt. Hätte ich doch nur über das Wetter geredet, oder über andere belanglose Dinge… Wieder einmal war ich gescheitert bei dem Versuch, mit einem Menschen Kontakt aufzunehmen. Kein sehr ermutigendes Gefühl, wenn ich an den folgenden Tag dachte! Denn entgegen aller Hoffnungen war ich nicht krank geworden. Also mußte ich mich nun geistig und seelisch auf den Ball einstellen. Zumindest mußte ich es versuchen. Die eben überstandene Begegnung war dabei nicht besonders hilfreich.
***
Endlich war es soweit!
Der große Ballabend, auf den meine Tochter Helena und ich uns so sehr gefreut hatten, war da. Es war eigentlich auch Lizzies Geburtstag. Sie wollte ihn jedoch nicht weiter begehen. Der Ball wäre ihr Geschenk, sagte sie. Ich widersprach nicht. Der Ball war wirklich ein wichtiges Ereignis, vor allem für Helena. Es war höchste Zeit, daß sie endlich heiratete.
Helenas neues Kleid war rechtzeitig fertiggeworden und sie war äußerst zufrieden damit, denn sie sah einfach bezaubernd darin aus, wie eine Prinzessin. Schon lange vor der festgesetzten Zeit hatte sie es angelegt und präsentierte es mir und ihrer Schwester, die daneben in ihrem einfachen schwarzen Kleid recht blaß aussehen würde. Doch das hatte Lizzie sich selbst zuzuschreiben, sie hatte es nicht anders gewollt, und in ihrem Alter konnte man sie ja nicht mehr zu ihrem Glück zwingen, wenn sie es nicht wollte.
Ich meinerseits begab mich erst eine Stunde vor der angesetzten Abfahrt in unser Ankleidezimmer. Von dort mußte ich erst einmal meinen Mann vertreiben, der es sich wieder einmal mit seiner abscheulichen Pfeife gemütlich gemacht hatte. Eine unangenehme Angewohnheit, die ich ihm nicht abgewöhnen konnte.
Als er endlich gegangen war, nahm ich das Kleid, das ich tragen wollte, aus dem großen Schrank. Ich hatte es zuletzt bei der Beerdigung von Mr Pollies getragen, welche schon einige Jahre zurücklag. Aber da ich immer sehr auf meine Figur achte – leider ganz im Gegensatz zu Lizzie - paßte es noch. Kein Wunder bei den Strapazen, denen ich ständig ausgesetzt bin; da kann ich überhaupt nicht an Gewicht zulegen, wie so viele Frauen in meinem Alter. Es ist heutzutage nicht einfach, zwei Töchter gut zu verheiraten…
Als ich schließlich angekleidet war, rief ich nach Helena, damit diese mir die Haare ordnete. Ich würde nur eine einfache Hochsteckfrisur tragen, denn ich wollte meinen Töchtern nicht die Aufmerksamkeit stehlen. Es waren nur noch fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt. Ich wurde langsam unruhig und fragte meine Tochter, wo ihr Vater wäre. Aber ich erinnerte mich rechtzeitig, daß ich ihn zuvor selbst in die Bibliothek geschickt hatte, und rief nach ihm.
Mr Devane (ich nenne ihn öfter so, das schafft die manchmal nötige Distanz) antwortete auf mein Rufen mit einem ungebührlich lauten „Ja, ich bin fertig, Catherine, kommst du?“ Ich folgte seinem unnötigen Appell und begab mich ebenfalls in den Salon, um dort auf Lizzie und Helena zu warten, die noch rasch mit Hilfe des Mädchens ihre eigenen Haare anders stecken wollte.
Schließlich waren alle versammelt. Helena sah wirklich bezaubernd aus, wie ich voller Mutterstolz erneut feststellen mußte. Ich dachte kurz daran, einmal einen Maler zu bestellen, damit er meine Schönheiten für die Nachwelt festhielt. In diesem Moment schlug die Kaminuhr sieben Mal. Es war Zeit.
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