Sollte sich vielleicht jetzt doch alles ändern?
Nein, dieser Gedanke währte keine fünf Minuten.
Im Überwachungsraum angekommen, machte er mich sofort auf den Zustand meines nun zu großgewordenen „Bauchfells“ aufmerksam, drückte mir Klein-Robin in den Arm und verabschiedete sich, samt Hebamme, für eine Zigarettenpause.
Ich drehte mich im Bett herum und schaute Sebastian an.
Nein, er hatte mir wirklich genug angetan!
Als wenig später der Wecker klingelte, schlug er voller Wut auf den „Off“-Knopf und maulte unverständlich herum.
Nach weiteren fünf Minuten meldete sich der unverschämte Wecker erneut. „Blödes Mistding“, schnauzte er. „Mach mal Frühstück, ich muss raus!“
Ich wollte schon aufstehen, doch meine Erkenntnis von vorhin meldete sich. Los Karina, jetzt oder nie.
„Ich schlaf noch was. Ab heute gewöhnst du dich besser daran dein Frühstück selber zu machen.“
„Klasse, rumzicken am frühen Morgen. So was kann ich gebrauchen.“ Missmutig und böse dreinblickend stand er vor meinem Bett. Unsere Augen trafen sich.
„Keine Angst, die Zicke verlässt dich, Sebastian.“ Ich drehte mich zur anderen Seite und wartete auf das Donnerwetter, doch es blieb still.
Als Sebastian die Wohnung verlassen hatte, setzte ich mich an den Computer, um einen Artikel zu schreiben. Das Interview hatte ich schon vor drei Tagen gemacht und Herr Klarenwasser, mein Chefredakteur, würde sicherlich nicht weiter warten
wollen. Unkonzentriert legte ich los. Das Thema lag mir jetzt besonders.
Ein Ehepaar hatte Diamanthochzeit. Seit sechzig Jahren standen sie sich zur Seite und hatten mir stolz und händchenhaltend ihre Liebesstory erzählt. Inmitten ihrer zahlreichen Gäste schilderten sie ihre Liebe, die kein Hollywood-Macher schöner hätte schreiben können.
Schon bei ihrer ersten flüchtigen Begegnung wusste der Jubilar „das ist die eine“ und er erzählte seinem Vater, dass er die Frau getroffen habe, die er einmal heiraten werde. Der Vater belächelte seinen Sohn, denn zunächst war diese Liebe recht einseitig. Dass die beiden dennoch zusammenfanden, verdankte der Bräutigam der Schwiegermutter, die die Geschicke des jungen Glücks sorgfältig und unermüdlich lenkte, bis die Herzensdame ihn schließlich erhörte.
Seitdem hielten sie zusammen, und was auch immer sich an Schwierigkeiten in ihren Weg stellte, sie fanden gemeinsam eine Lösung. An der Türe verabschiedete mich das Paar mit den Worten: „Bis in zehn Jahren, dann feiern wir eiserne Hochzeit.“ Sie winkten mir noch lange nach. Doch ihre Worte sollten noch viel länger in mir nachhallen. Das war echte Liebe. „Cincero Amore“, die einzige und wirkliche Liebe.
So etwas wollte ich auch empfinden, dachte ich, und vielleicht kam dadurch auch die Erkenntnis der vergangenen Nacht.
Gedankenversunken schrieb und schrieb ich ihre Geschichte. Zum Schluss merkte ich, dass sie viel zu lang war. Nun hieß es kürzen. Doch was soll man bei so einer wunderschönen Geschichte kürzen. Jeder Satz den ich aus dem PC löschte tat mir leid. Und ich bemerkte wie meine Tränen erneut rollten.
Geschichten, die das Leben schrieb. Oh, was hatte ich einen
depressiven Drehbuchautor!
Aber nun stand auch noch meine wöchentliche Kolumne auf der Tagesordnung. „Leben live“, witzig, spritzig, alltäglich. Wie sollte ich das in meiner Stimmung zustande bringen?
Wieder einmal half mir die Erinnerung an Sebastian.
„ Immer zu spät
Wann immer ich eine Verabredung habe – ich komme zu spät. Oh, nicht, dass ich mich nicht bemühe pünktlich zu sein. Aber wenn ich einen Termin habe, scheint sich die Welt gegen mich zu verschwören. „Mama, guck mal was passiert ist!“ Und ich sehe, schon in den Startlöchern stehend, den Traubensaft quer über das Bett verteilt. Super! Nun heißt es Bett abziehen, in die Waschmaschine stopfen und dann loseilen. Natürlich mit einer viertel Stunde Verspätung. Ist es nicht der Saft, dann hat es der Welpe mal eben nicht mehr bis in den Garten geschafft, die Nachbarin muss dringend etwas mitteilen, oder das Telefon klingelt. Und sollten einmal keine anderen Personen meine Zeit in Anspruch nehmen, kann ich darauf wetten, dass mein Schlüssel wie vom Erdboden verschluckt ist, oder dass das Müllauto genau so vor meinem Wagen seinen Dienst verrichtet, sodass ich nicht gleich losfahren kann. Nun hatte ich eine Verabredung mit meiner Freundin. Als Treffpunkt hatten wir den Münsterplatz vereinbart, und dort konnte ich sie unmöglich lange stehen lassen. Alle Verzögerungen einplanend, stellte ich den Wecker eine halbe Stunde früher, Telefon und Schelle wurden ignoriert und den Hunden ließ ich die ganze Zeit die Tür zum Garten auf. Und zum ersten Mal seit langem schaffte ich es. Ich war pünktlich. Als ich auf dem Marktplatz stand, begann es zu nieseln. Den Schirm hatte ich in der Eile natürlich vergessen. Durchnässt sah ich sie eine halbe Stunde später auf mich zuschlendern. „Sorry. Aber ich hätte nicht gedacht, dass du mal pünktlich bist!“
Typisch Sebastian! Doch ich entschied mich die Geschichte schnell auf meine Freundin umzuschreiben, denn er sollte in meinem Leben einfach keinen Platz mehr haben.
Welch Bildnis! Ich war wirklich zu spät dran, ich hätte mich schon viel früher trennen müssen!
Wir einigten uns zunächst noch gemeinsam in der Wohnung zu leben, bis Sebastian etwas für sich gefunden hatte. Ich schlief also fortan mit in Robins Kinderzimmer.
Schützenfest.
Und was tat ich wieder dabei?
Ich liebe das Landleben! Obwohl wir eigentlich streng genommen eher ländlich, als auf dem Land leben. Zwei Großstädte sind in weniger als einer Viertel Stunde mit dem Auto erreichbar. Aber wir haben eben recht viele Kühe hier! Auf dem „Dorf“ fühle ich mich geborgen und sicher, die Anonymität einer Großstadt liegt mir nicht im Blut. Doch, wie bei allem, gibt es auch hier eine Kehrseite der Medaille, denn das Dorfleben ist turbulent – und das nicht nur, weil man hier eigentlich nie etwas verbergen kann! Es ist irgendwie immer etwas los. Welcher Städter würde das wohl glauben, doch ich kann versichern, es ist so! Und aus allem heraushalten, das wird hier nicht gerne gesehen. Die Familien sind in Vereinen, in der Kirchengemeinde und vor allem im Schützenwesen aktiv. Ich für meinen Teil hatte diese dringliche Verpflichtung schon mit der Mitgliedschaft im hiesigen Reiterverein abgegolten, doch meinen lieben Sebastian drängte es in höhere Sphären, und so fand ich mich als Angetraute ebenfalls im Schützenverein wieder.
Und die Termine, die diese Mitgliedschaft mit sich brachte, waren mannigfaltig. Vereinsabende, Stammtische, Tanz in den Mai und natürlich das Wichtigste: das Schützenfest. Bei diesem „großen“ Ereignis hetzte von Samstag bis Dienstag ein Termin den nächsten. Schützenumzüge, bei denen die verschiedenen Corpsarten gemeinsam über den Paradeplatz und durch die Straßen marschierten, Abendveranstaltungen mit Tanz und Ordensverleihungen im Schützenzelt und Kirchenbesuche im Zeichen von „Glaube, Sitte und Heimat“.
Sebastian hatte sich dem Reitercorps angeschlossen. Wichtigste Utensilien dieser Truppe waren in erster Linie Pferde und in zweiter, nicht minder wichtigen Rolle, Arbeitsfrauen. Diese hatten sich stets im Hintergrund zu halten. Hier und da und das nicht selten, stand es ihnen zu, ein mit Bier verspritztes Hemd auf die Schnelle zu waschen und zu bügeln, Stiefel auf Hochglanz zu polieren und ständig unsichtbar zur Stelle und abrufbereit zu sein. Kurz: tagsüber waren wir die Arbeitsbienen, die des Nächtens zur Ballkönigin mutieren sollten.
Eigentlich wollte ich mich, wie die vergangenen Jahre, weitestgehend vor dem Rummel drücken und mich die gesamten vier Tage nur wenig in unserem Dörfchen sehen lassen. Doch nun stand ich schon wieder hier, sattelte meinem Mann mein Pferd, würde es ihm gleich zum Paradeplatz bringen und dann geduldig mit allen anderen Frauen warten, bis der Schützenzug zu Ende ist.
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