„Okay, Leute. Es dürfen nur die bleiben, die unmittelbar mit dem Mord oder der Toten zu tun haben. Alle anderen bitte ich zu gehen“, sage Hans sehr laut. Der Gesang verstummte, niemand rührte sich. „Sehr schön. Dann kann ich davon ausgehen, dass Sie alle tatverdächtig sind“, fügte er hinzu und zog seinen kleinen Block aus der Brusttasche. Darauf drehten sich alle um und verschwanden. Alle, bis auf einen.
„Wer sind Sie?“
„Bruder Niklaus. Ich fürchte, dass ich mit der Toten gestern am späten Abend gesprochen habe“, sagte der ältere Mann, dessen braune Kutte den runden Bauch nicht verhüllen konnte.
„Sie sind sich da ganz sicher?“ Hans war überrascht, denn man konnte das Gesicht der Toten nicht wirklich erkennen. Zum einen, weil sie mit dem Gesicht nach unten lag, und zum anderen, weil es entstellt wurde.
„Ja. Die Frau von gestern Abend hatte dasselbe rote Haar.“
„Geben Sie das Gespräch mit der Frau genau wieder.“
„Ich war an der Pforte, als sie nach Bruder Clemens verlangte. Ich teilte ihr mit, dass es für einen Besuch zu spät sei und bat sie, am nächsten Tag wiederzukommen. Daraufhin ist sie wieder gegangen. Sie schien enttäuscht zu sein, aber mir waren die Hände gebunden. Besuche um diese späte Zeit sind nicht erlaubt und daran habe ich mich gehalten.“ Hans kannte die Kutte des Glaubensbruders und wusste, dass es sich um einen Kapuziner handelte, dessen Kloster sich nur wenige Meter auf der anderen Straßenseite befand. „Vielleicht würde sie noch leben, wenn ich mich nicht an die Regeln gehalten hätte und einfach Bruder Clemens gerufen hätte.“
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“
„Das sagen Sie so leichtfertig, ich mache mir die schlimmsten Vorwürfe.“
„Wenn Sie die Frau nicht getötet haben, haben Sie sich nichts vorzuwerfen. Was wollte sie von Bruder Clemens?“
„Das weiß ich nicht. Sie hat es mir nicht verraten und ich habe sie nicht gefragt. Wenn ich doch nur….“
„Von welcher Uhrzeit sprechen wir? Wann haben Sie mit der Frau gesprochen?“
„Es war kurz vor einundzwanzig Uhr. Wir schließen unser Kloster nach der letzten Messe um zwanzig Uhr dreißig.“ Bruder Niklaus war völlig aufgelöst und zitterte.
„Wo finden wir Bruder Clemens?“ Hans war kein Seelsorger, den musste Bruder Niklaus in den eigenen Reihen suchen.
„Er hat Dienst in der Basilika.“
„Hier ist meine Karte. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, melden Sie sich. Sie können jetzt gehen.“
Hans ging zu Tatjana, die sich erneut mit Fuchs angelegt hatte. Der Streit zwischen den beiden hallte in der alten, beeindruckenden Kirche, was beide offensichtlich nicht interessierte.
„Nun blasen Sie sich doch nicht so auf, Fuchs!“
„Für Sie immer noch Herr Fuchs, Frau Struck! Sie müssen warten, bis wir hier fertig sind, erst dann kann ich mehr sagen. Und jetzt lassen Sie mich endlich meine Arbeit machen!“
Hans unterbrach die beiden und schilderte, was er von Bruder Niklaus erfahren hatte.
„Such diesen Bruder Clemens, die Basilika ist ja nicht weit. Nimm Leo mit!“
Leo hielt sich am Geländer der Tilly-Gruft fest. Er fühlte sich zwar besser, aber für einen Fußmarsch von der Stiftskirche bis zur Basilika nicht fit genug. Wenn er an das unebene Kopfsteinpflaster und die vielen Stufen der Basilika dachte, wurde ihm schlecht.
„Sei so gut und nimm Diana mit“, sagte er und lehnte sich nun gegen die kalte Mauer der Stiftskirche, was aber auch keine Linderung brachte. „Ich muss zur Apotheke und mein Rezept einlösen, die Schmerzen sind kaum auszuhalten“, sagte er und ging langsam davon.
„Was hat er?“, fragte Tatjana Hans.
„Hexenschuss.“
„Naja, er ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Habe ich richtig gesehen? Ist auf seinem T-Shirt eine fette Hanfpflanze?“
„Ja. Lustig, nicht wahr? Der traut sich was! Wenn das der Chef sieht, flippt der aus.“
„Dann wird der Tag vielleicht doch noch ganz nett. Such Bruder Clemens und nimm Diana mit.“
„Ist das so klug?“
„Was meinst du?“
„Hast du gesehen, wie sie aussieht? Willst du, dass die Ordensbrüder einen Herzinfarkt bekommen? Wäre es nicht besser, wenn wir beide uns auf den Weg machen und Diana hierbleibt?“
„Diana macht ihre Arbeit, so wie wir alle. Es hat niemanden zu interessieren, wie eine Kriminalbeamtin gekleidet ist – auch die Ordensbrüder nicht! Sieh mich an!“
Hans musste lachen, was sich nach dem Streit auch sehr unnatürlich anhörte, aber er konnte nicht anders. Tatjana war rein optisch das genaue Gegenteil von Diana. Während die immer sehr ansehnlich und wie aus dem Ei gepellt aussah, legte Tatjana überhaupt keinen Wert auf ihr Äußeres. Auf ihrem ungebügelten T-Shirt leuchtete ein Fleck, der nach Eigelb aussah. Zu der alten Jeans, die etwas zu lang war, leuchteten neue, hellblaue Sneaker, mit denen sie kürzlich im Dreck gelaufen sein musste.
„Es ist besser, wenn ich hierbleibe und Fuchs Dampf mache, sonst müssen wir noch tagelang warten, bis wir endlich brauchbare Informationen von ihm bekommen.“
Hans genoss den kurzen Spaziergang mit Diana. Der Mai war nach einem holprigen Start zum Ende hin endlich in Fahrt gekommen. Es war warm und überall blühte es. Vor allem aber genoss er die Blicke auf die Frauen, die nach dem langen Winter endlich wieder mehr Haut zeigten.
„Du bist echt peinlich, Hans!“, sagte Diana, die die Blicke sehr wohl bemerkte.
„Ich und peinlich? Warum?“
„Starr doch die Frauen nicht so an!“
„Warum nicht? Die kleiden sich sehr hübsch und laufen in der Öffentlichkeit herum. Ich sehe keinen Grund, warum ich das nicht anerkennen sollte.“
„Du bist echt von vorgestern! Wir ziehen uns nicht für andere an, sondern für uns.“
„Das sehe ich anders.“
Leo kam nur langsam voran. Kurz nach dem Hintereingang der Stiftskirche musste er anhalten. Er hielt sich an einer Bank fest und atmete schwer. Dann hörte er sich stöhnen und schämte sich dafür. Ganz so alt und gebrechlich, wie er sich gab, war er dann doch noch nicht. Er nahm sich vor, sich zusammenzureißen. Gerade, als er weitergehen wollte, bemerkte er in einem der beiden Papierkörbe neben der Bank eine Plastiktüte, aus der ein gemusterter Stoff herauslugte. Mit einem Taschentuch zog er an dem Stoff und erkannte ein Kleid. Als er auch noch einen Damenschuh in der Tüte entdeckte, nahm er das Handy und rief Fuchs an.
„Ich befinde mich an einer Bank vor dem Hintereingang der Stiftskirche und habe vermutlich die Kleidung der Toten gefunden“, sagte er.
„Wir kommen.“ Fuchs reagierte sofort und drängelte sich an Tatjana Struck vorbei, die das nicht unkommentiert ließ. Frau Struck war heute sehr mies gelaunt, was ihm mehr und mehr auf die Nerven ging. Eine Abwechslung kam ihm da sehr gelegen. Er sah Leo Schwartz, wie der sich an einer Bank abstützte.
„Sie sollten zum Arzt gehen“, sagte Fuchs zu Leo.
„Da war ich schon.“
Mehr wollte Fuchs zum Zustand seines Kollegen nicht sagen. Das Befinden seiner Kollegen gehörte nicht zu seinem Aufgabengebiet. Außerdem war Herr Schwartz alt genug, um sich selbst um seinen Gesundheitszustand zu kümmern.
„Gibt es eine Handtasche, ein Handy, oder dergleichen?“ Leo hatte ohne Handschuhe nicht gewagt, die Plastiktüte zu durchsuchen.
„Nein. Nur Kleidung und Schuhe, mehr leider nicht.“
Fuchs hatte alles im Griff, deshalb konnte Leo endlich weitergehen. Er musste mehrere Passanten nach der nächstgelegenen Apotheke fragen, bis er endlich an seinem Ziel in der Bahnhofstraße angekommen war. Er riss sich zusammen, denn je näher er der Apotheke kam, desto größer wurden die Schmerzen.
Eine Frau kümmerte sich um ihn und nahm ihm das Rezept ab, das er in der Hand hielt.
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