Hans musste lachen. Leo ging es deutlich besser, auch wenn er immer noch etwas gebückt ging und sogar humpelte. Dass sein Freund und Kollege maßlos übertrieb, war ihm klar. Was für ein Weichei! Er hätte an dessen Stelle die Zähne zusammengebissen und den Schmerz ertragen.
Tatjana Struck hatte den Tatort fest im Griff. Die achtunddreißigjährige Leiterin der Mordkommission hatte bereits einige Zeugen vernommen und sogar schon einen Streit mit Friedrich Fuchs vom Zaun gebrochen. Der Leiter der Spurensicherung hatte den Tatort abgesperrt und jedem verboten, auch nur einen Fuß über die Absperrung zu setzen. Der Streit war dadurch entstanden, als sich Fuchs erlaubte, Tatjana vor allen Kollegen zu maßregeln, was sich diese nicht gefallen ließ.
„Endlich“, begrüßte Diana Nußbaumer Leo und Hans. „Ich dachte schon, ihr kommt überhaupt nicht mehr.“ Diana war neu im Team. Die achtundzwanzigjährige, sehr ehrgeizige Kollegin sah heute wieder fantastisch aus. Diana gab sich immer sehr viel Mühe mit ihrem Äußeren. Sie passte mit ihrem pinkfarbenen, kurzen Rock, dem Top und den schwarzen, hochhackigen Schuhen mit der dazu passenden riesigen Handtasche nicht zur Tilly-Kapelle in der Altöttinger Stiftskirche.
„Sind das alles Zeugen?“, fragte Leo und zeigte auf eine große Gruppe, unter denen sich auch einige Mönche und Ordensschwestern befanden.
„Nein. Die Putzfrau Olga Nemec hat die Tote gefunden. Nachdem ich sie befragt habe, habe ich sie nach Hause geschickt. Die arme Frau ist völlig fertig mit den Nerven, was ich durchaus verstehen kann. Frau Nemec hat die Leiche um 7.35 Uhr gefunden und sofort die Polizei gerufen. Nach ihr kamen der Hausmeister, die Mesnerin und der Kerzenlieferant. Frau Nemec hat niemanden gehört oder gesehen, die anderen auch nicht. Nach unserem Eintreffen wurden alle Ein- und Ausgänge versperrt und die Stiftskirche wurde durchsucht.“
„Lass mich raten: Ihr habt nichts gefunden?“
„Richtig. Die Frau, deren Identität noch nicht geklärt ist, wurde erschlagen. Die Tatwaffe ist ein Kreuz aus Metall, das neben der Leiche gefunden wurde.“
„Wenn alle Ein- und Ausgänge versperrt wurden, frage ich mich, wie die ganzen Menschen hier reinkamen“, sagte Hans, der nicht fassen konnte, wieviel Leute hier waren. Hatten die nichts zu tun?
„Die waren schon hier, als wir eintrafen. Wir konnten ja nicht wissen, dass die nur aus Neugier hier sind. Ich wollte sie bereits wegschicken, aber Tatjana will das persönlich übernehmen.“
„Und warum ist das nicht schon längst geschehen?“
„Weil Fuchs sie ständig davon abhält. Der hat heute eine Laune, die nicht zu ertragen ist. Ich habe bereits versucht, ihn zu besänftigen, was mir aber auch nicht gelang. Er und Tatjana geraten ständig aneinander, was mir so langsam peinlich ist und auch auf die Nerven geht. Ihr müsst euch den Tatort ansehen. Macht euch auf etwas gefasst, das ihr so vielleicht noch nie gesehen habt.“
„Was ist damit?“
„Seht es euch selbst an, sonst glaubt ihr mir nicht.“
Leo und Hans standen vor der Absperrung, die Fuchs angebracht hatte. Beide schlüpften unter dem Band durch, was Fuchs beobachtete. Ab jetzt würde er die beiden Kriminalbeamten nicht mehr aus den Augen lassen.
Hans ging zuerst. Die Treppe zur Tilly-Gruft hatte sehr enge Stufen, was für seine Schuhgröße eine Herausforderung war. Hans starrte auf die nackte Frauenleiche, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Tilly-Sarg lag. Ihre roten Haare deckten das Sichtfenster des Sarges ab. Das Blut am Hinterkopf und auf dem Sarg glänzte im Schein der hellen Lampen, die Fuchs aufgestellt hatte. Hans registrierte sofort, dass das Blut noch nicht getrocknet war. Auf den beiden Särgen links und rechts des Tilly-Sarges, und auf den beiden Särgen direkt neben der Treppe, in denen Tillys Neffe Werner und dessen Familie bestattet wurden, standen mehrere Kerzen, darunter eine schwarze Kerze. Auf dem Sarg rechts lag ein großes Kreuz aus Metall - vermutlich die Tatwaffe, von der Diana sprach. Auch auf dem Boden standen viele Kerzen, unter denen sich auch zwei rote befanden.
„Was ist das denn?“, sagte Hans erschrocken. „Eine Totenmesse in der Tilly-Gruft? Das hatten wir auch noch nie.“
„Ich weiß nicht. Eine Totenmesse? Ist das nicht zu weit hergeholt?“ Leo war Hans gefolgt, brauchte aber sehr viel länger. Jede einzelne Treppenstufe schmerzte gewaltig. Unter normalen Umständen hätte er sich mit den Fotos zufrieden gegeben, aber seine Neugier war nach dem Gespräch mit Diana viel zu groß. Er war nicht minder geschockt von dem Anblick des Tatorts.
Beide sahen zu, wie einer von Fuchs‘ Mitarbeitern Fotos machte. Dann nahm er das rote Haar, das das Gesicht bedeckt hatte und machte mehrere Bilder von dem Gesicht. Leo und Hans erschraken. Das Gesicht war völlig verunstaltet worden.
„Sind das Schnitte?“, frage Hans den Kollegen Fuchs, der immer noch jede Bewegung der Kollegen registrierte. Hans hatte sich in der engen Tilly-Gruft zur Leiche vorgedrängelt und sah ihr ins Gesicht.
„Ja. Ich vermute ein scharfes Messer oder eine Rasierklinge.“
„Sie war stark geschminkt“, sagte Hans und zeigte auf eine falsche Wimper, die blutverschmiert an der Wange hing.
„Auch das haben wir registriert.“
Hans besah sich die Hände und Füße der Toten.
„Manikürt“, murmelte er.
„Auch das haben wir bereits notiert“, maulte Fuchs. Glaubte Herr Hiebler, dass er das nicht gesehen hatte?
„Kann man das Opfer jetzt endlich abdecken?“, sagte Leo an Fuchs gewandt. Er verzichtete darauf, sich der Leiche noch mehr zu nähern, denn dafür war einfach nicht genug Platz. Da genug Fotos von der Toten gemacht wurden, befand er es an der Zeit, die Leiche abzudecken.
„Wollen Sie mir jetzt auch vorschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe? Ich warne Sie, Herr Schwartz, meine Toleranzgrenze ist für heute erreicht.“
„Und trotzdem sollten Sie professionelle Arbeit machen! Ihre Befindlichkeiten sind mir völlig egal! Decken Sie die Leiche endlich ab! Wie lange soll die Frau denn noch entblößt für alle sichtbar hier liegen? Würde es Ihnen gefallen, wenn Sie anstelle des Opfers wären und man Ihnen so wenig Respekt zollen würde?“
Der Anschiss zeigte Wirkung. Fuchs nahm ein Laken und deckte die Frau zu.
„Todeszeitpunkt?“
„Gestern zwischen zwanzig Uhr und Mitternacht. Genauer kann ich mich nicht festlegen. Sie sehen ja selbst, in welcher Umgebung die Tote lag.“
„Warum ist das Blut noch nicht getrocknet?“
„Das liegt an der Umgebung.“
„Wir vermuten eine Totenmesse“, sagte Leo und sah Fuchs an. „Was denken Sie?“
„Das war auch mein erster Eindruck, aber daran glaube ich nicht. Totenmessen oder Schwarze Messen, die es seit Jahrhunderten geben soll, sind nie nachgewiesen worden. Ich bin Realist und will nicht glauben, dass es so etwas gibt.“
„Und trotzdem sieht es danach aus. Wo ist die Kleidung der Toten?“
„Die wurde nicht gefunden. Und bevor Sie fragen: Es gab weder Schuhe noch eine Tasche oder dergleichen. Haben Sie jetzt alles gesehen? Wenn ja, würde ich Sie bitten, wieder zu gehen. Sie sehen ja selbst, wie eng es hier ist.“
„Sicher.“
Hans übernahm es, die Personalien aller Anwesenden aufzunehmen, die am Geländer rund um die Tilly-Gruft standen. Dann versuchte er, die Leute wegzuschicken, was sich sehr schwierig gestaltete. Vor allem die Ordensschwestern und Mönche waren geschockt von der Leiche in der Tilly-Gruft. Alle hatten dieselbe Vermutung: Es gab eine Totenmesse in der Tilly-Gruft und die Tote war eine Opfergabe. Das war ein Skandal, den es in diesen ehrwürdigen Mauern noch nie gegeben hat. Einige Schaulustige stimmten ein Gebet an, denen andere folgten und lauter und lauter wurden. Als das auch noch in einen Gesang überging, war für Hans das Maß voll.
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