Nationalismus und Liberalismus
Die Beschlüsse des Wiener Kongresses zielen auf die Wiederherstellung und Bewahrung der „alten Ordnung“ – also der politischen Zustände vor Beginn der Französischen Revolution - ab. Der Erhalt der alten Ordnung ist oberstes Ziel der Politik der europäischen Herrscherhäuser. Aufkommende nationale oder liberale Strömungen werden mit allen Mitteln unterdrückt. Der Anlass die Schrauben der Repression in Europa fester zu ziehen, bietet sich am frühen Nachmittag des 23. März 1819, als ein junger Mann an der Haustür des Dichters und russischen Staatsrates August von Kotzebue (1761 – 1819) klingelt, sich als „Herr Heinrichs“ ausgibt und Einlass findet. Aber kaum hat „Herr Heinrichs“ die Wohnung des Dichters betreten, zieht er plötzlich einen kleinen Dolch aus dem Hemdsärmel und sticht mit dem Ruf „Du, Verräter des Vaterlands!“ dreimal auf den Körper von Kotzebues ein. An Lunge und Herz getroffen bricht das Opfer zusammen und stirbt. Karl Ludwig Sand, wie „Herr Heinrichs“ in Wahrheit heißt, versucht anschließend sich auf gleiche Weise ums Leben zu bringen, wird aber vorher verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Nach einem Jahr kommt es vor dem Hofgericht des Niederrheins zum Prozess, an dessen Ende Karl Ludwig Sand zum Tode durch das Schwert verurteilt wird.
Für den österreichischen Außenminister und Architekten der Restauration Europas, Clemens Fürst Metternich (1773 – 1859) , ist der Mord an August von Kotzebue mehr als nur die Handlung eines geistig zurück gebliebenen Einzeltäters. In der Kanzlei Metternichs ist man überzeugt, dass Karl Ludwig Sand im Auftrag einer Verschwörung gegen die bestehende Ordnung gehandelt hat. Und damit ist die Tat ein willkommener Anlass, die Daumenschrauben der Repression innerhalb des Deutschen Bundes anzuziehen.
Die deutsche Nationalbewegung
Im August 1819 beraten Österreich und Preußen auf einer Konferenz in Karlsbad, wie der Unruhe im Deutschen Bund zu begegnen sei. Die dort gefassten Beschlüsse, werden am 31. August 1819 veröffentlicht: Sämtliche Universitäten stehen nun unter der Aufsicht eines „außerordentlichen, landesherrlichen Bevollmächtigen“, die Pressefreiheit wird aufgehoben, die Zeitungen unterliegen einer strengen Zensur, liberal gesinnte Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen werden entlassen, Turnvereine und geheime Burschenschaften verboten. Per Dekret ist Deutschland damit in die vorrevolutionären Zeiten zurück „verordnet“ worden. Die deutschen Fürsten haben nun ein von der Bundesversammlung in Frankfurt abgesegnetes Instrumentarium, um der Unruhe mit polizeilichen Mitteln Herr zu werden. Ihre Angst ist nicht unberechtigt. Zur 300. Wiederkehr der Veröffentlichung der Thesen des Reformators Martin Luther haben sich zwei Jahre zuvor - Ende Oktober 1517 - viele tausend Burschenschaftler mit schwarz-rot-goldenen Fahnen in der Hand auf der Wartburg versammelt. Das Gedenkfest hat eher den Charakter eines Gottesdienstes gehabt, bei dem um eine kühne Tat für die „nationale Sache“ gebetet wurde. Für die Burschenschaftler ist der Mönch aus Eisleben dabei Vorbild gewesen.
Aber für Martin Luther ist 1517 die römische Kirche der Gegner gewesen. Jetzt 300 Jahre später ist es das als Fremdherrschaft empfundene politische System. Dagegen stellen die Anwesenden politische Forderungen, die einer Revolution gleichkommen:
Schaubild 1
[Politische Forderungen der „nationalen Bewegung“ 1817]
Aber die Gralshüter der Restauration, allen voran der österreichische Außenminister Clemens Fürst Metternich, erkennen die Signale von Wartburg nicht und glauben mit der Androhung staatlicher Gewalt, die öffentliche Ordnung gewährleisten zu können. Kurzfristig ist diese Strategie von Erfolg gekrönt, langfristig aber lassen sich nationale und liberale Strömungen nicht unterdrücken.
Zumal viele Deutsche 1816 und 1817 durch Hungersnöte und Wirtschaftskrisen in eine existenzielle Krise gedrängt werden. Der tägliche Überlebenskampf lässt bei vielen Menschen wenig Zeit übrig, sich über die zukünftige Gestaltung ihres Staates Gedanken zu machen. Aber die andauernde Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die unübersehbare Präsenz von Polizei und Staat, die für jeden sichtbare Verfolgung von so genannten „Demagogen“ sorgen für eine unheimliche Stille im Land. Mitglieder der studentischen Burschenschaften, Angehörige von verdächtigen Turnvereinen und Universitäten werden verfolgt, verhaftet oder amtsenthoben. Ernst Moritz Arndt, Turnvater Jahn und viele andere lernen preußische Gefängnisse von innen kennen
oder müssen das Land verlassen. Während die staatliche Rasterfahndung auf vollen Touren läuft, ziehen sich viele Menschen ins Private zurück, verzichten auf jede Form der politischen Betätigung. Es zählt das Eigene, der Rückzug ins Private wird zum Programm.
Zwischen 1815 und 1850 ist die Zeit des Biedermeier in Deutschland ein Reflex auf die von vielen Menschen empfundene Entfremdung und Sinnentleerung. Sie sehnen sich nach einem idyllischen, harmonischen Leben, das sie vor Urbanisierung und Industrialisierung schützt und besinnen sich auf die Natur und elementare Werte, die ihnen Schutz in turbulenten Zeiten gewähren sollen. Im Mittelpunkt dieser Kultur steht die bürgerliche Familie, die sich keine großen Sprünge erlauben kann, dazu sind die meisten zu arm. Das Land leidet unter den wirtschaftlichen Schäden der Kriege gegen Napoleon, die das Land ausgezehrt haben. Und gleichzeitig stehen sie am Beginn einer längeren Friedenszeit mit arbeitslosen Soldaten, die die einzigen sind, die sich über diesen Zustand beklagen. Unter den Augen des Polizeistaats macht sich dennoch eine oberflächliche Heiterkeit breit, die den beschaulich gekleideten Familienvater nebst Gattin und einer größer werdenden Kinderschar beim Sonntagsspaziergang hervorbringt. Die Zahl der Kinder steigt rapide, als habe es einen Knopfdruck gegeben, der den biologischen Ausgleich für die hohen Verluste der vorangegangenen Kriege in die Wege leitet. Bis zum Jahr 1848 erhöht sich die Bevölkerungszahl des Deutschen Bundes um ein Drittel, was die Landwirtschaft vor Probleme stellt, denn so viele Mäuler kann sie nicht stopfen. Die Armut ist in manchen Gegenden so groß, dass die örtlichen Verwaltungen regelrechte Bettelzüge zusammen stellen, die nach einem festgelegten Turnus durch die umliegenden Dörfer ziehen, um Lebensmittel zu erbetteln. In den Städten geht es nicht viel besser, das Heer der Gelegenheitsarbeiter steigt mit dem täglich größer werdenden Elend.
Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Nationalismus und Liberalismus sind in diesen Jahren zwei Seiten einer Medaille. Die Forderung nach nationaler Einheit und Selbstbestimmung ist verbunden mit dem Wunsch nach einer liberalen Verfassung, die den Menschen gleiche Rechte und Pflichten garantiert. Da sich diese Forderungen in Deutschland nicht durchsetzen lassen, blicken viele Intellektuelle sehnsuchtsvoll über die Landesgrenzen, wo Befreiungskämpfe den ersten Nationalstaaten Europas zum Durchbruch verhelfen.
Den Anfang machen die Spanier, die sich 1820 gegen die reaktionäre Herrschaft Ferdinands VII. (1784 – 1833) auflehnen. Nach einem Aufstand muss der spanische König notgedrungen die Konstitution der Cortes von 1812 wieder herstellen. Da aber bereits 1810 in der Cortes von Cadiz ein liberale Verfassung erarbeitet worden ist, die dem König ausführende Rechte und der Cortes das Gesetzgebungsrecht zuerkennt, ist die Herrschaft Ferdinands VII. an die Cortes gebunden. Aber Ferdinand sendet einen Hilferuf nach Frankreich, von wo 1823 eine militärische Intervention gestartet wird, die den König wieder in das hergebrachte absolutistische System einsetzt. Dennoch: Der Anfang ist gemacht und der Funke des Aufruhrs springt schnell über ins benachbarte Portugal.
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