"Wo denkst du hin, Sohn?! Sie sind eher so eine Art Geburtshelfer, denn es gilt, den Geist aus seiner erstarrten, materiellen Umklammerung zu befreien, um ihn für die Generationen des kommenden Zeitalters wieder strahlen zu lassen."
"Für die Christen?"
"Für alle Menschen. Esoterik ist an keine Religion gebunden."
"Hmm... Ich glaube, ich verstehe."
"Gut. Aber kommen wir noch einmal zurück auf die Frage nach Vergangenheit und Zukunft. Wir alle leben genauso in der Zukunft, wie wir gleichzeitig auch in der Vergangenheit leben und halten das für Gegenwart. Denn, wie gesagt, die irdische Ebene unserer fünf Sinne, im Gegensatz zu den anderen Bewusstseinsebenen - oder Welten - erscheint uns immer als Gegenwart."
"Moment, Großpapa. wenn ich träume, dass die Schule brennt und ich sehe sie im Traum wirklich brennen, dann ist das doch auch Gegenwart. Aber es passiert trotzdem nicht auf der Erde."
"Dann lass es mich präzisieren: Gegenwart findet immer dort statt, wo unser Bewusstsein zentriert ist. Sei es auf der irdischen, der astralen, der mentalen oder spirituellen Ebene."
"Aber sagtest du nicht, unsere Sinne lassen uns Gegenwart empfinden?"
"Ja, denn Bewusstsein und Sinne - seien es die äußeren oder seien es die inneren - sind aneinander gekoppelt."
"Und was meintest du mit den anderen Welten?"
"Die alten Kabbalisten nannten sie die Welten von Assiah, Briah, Jetzirah und Atziluth und meinten damit die Welten der Verfestigung , der Ausgestaltung , der Schöpfung und die Welt der Ideen . Wir kennen diese Wirklichkeiten schon unter der Bezeichnung der 'klassischen' Elemente als die Ebene der Erde, des Wassers, der Luft und des Feuers, bzw. als die materielle, die astrale, die mentale und die spirituelle Welt."
"Aber ähh... die mentale Welt ist doch..."
"Ist die Welt der Gedanken."
"Wenn ich also denke, benutze ich meinen Mentalkörper, stimmt das?"
"Das will ich zumindest hoffen."
"Ja, aber... wenn ich mir ein vergangenes Ereignis vorstelle - dann muss es doch noch lange nicht real stattgefunden haben, in der Vergangenheit. Es ist doch vielleicht reine Einbildung."
"Ja. Warum fragst du?"
"Weil du sagst, wir erleben Gegenwart, wo unser Bewusstsein konzentriert ist. Aber wenn diese Gegenwart gar nicht stattfindet, weil sie nur eingebildet ist..."
"Die Einbildung auf der Luft- oder Mentalebene entspricht den möglichen Ereignissen auf der physischen oder Erdebene: wir sind in unserer materiellen Welt eingebettet in eine unüberschaubare Fülle von Möglichkeiten.
Und je nach unseren - zumeist unbewussten - Aktivitäten auf der Gedankenebene formen wir unsere Realität, für uns selbst und für unsere Mitgeschöpfe.
Die Gegenwart, in der wir leben, ist also das materialisierte Ergebnis unserer mentalen Aktivitäten. So betrachtet, ist die Wirklichkeit so eine Art eingefrorener Geist, der sich von den anderen Möglichkeiten, die ja auch Realität hätten werden können, unterscheidet wie eine Erinnerung von einer Phantasie."
"Ich verstehe. Realität liegt also immer irgendwo zwischen der Phantasie und der Erinnerung?"
"Wobei die Phantasie und die Erinnerung ihre Entsprechung haben als Zukunft und Vergangenheit auf der Erde - nur mit dem Unterschied, dass man in der materiellen Welt bewusst weder Zukunft noch Vergangenheit erleben kann - sondern immer nur Gegenwart.
Vielleicht erinnerst du dich an unsere kleine Liste, die wir vor zwei Tagen betrachtet hatten. Dort entsprach die Gegenwart dem 'Ich', die Vergangenheit dem 'Es' und die Zukunft dem 'Über-Ich'. Warum erleben wir aber die Vergangenheit mit dem 'Es', dem Unterbewusstsein? Weil nur das 'Es' über den Gedächtnisspeicher verfügt. Das 'Ich', welches die Gegenwart erlebt, ist ohne Gedächtnis. Doch davon später. Im Augenblick wollen wir nur noch kurz die Verbindung des 'Über-Ich'-Bewusstseins mit der Zeitdimension 'Zukunft' festhalten: wir wissen ja schon, dass unsere materielle Welt sich aus den höheren Bewusstseinsebenen des Überselbst heraus manifestiert. Wenn wir also an die Planung unserer Zukunft gehen, sei es als Individuum, sei es als Kollektiv, treten wir mit der Ebene über uns, oder, wenn du so willst, mit der Ebene der Götter in Verbindung. Wohingegen Menschen, deren Bewusstsein ständig um Vergangenes kreist, auf der Ebene unterhalb ihres Bewusstseinslevels festhängen, wie die Grammophonnadel in einer verkratzten Schellackplatte."
"Ich glaube, das verstehe ich. - ... Um also die Dinosaurier nicht im Jurassicpark sondern real in der Vergangenheit zu erleben, muss ich nicht mit dem Flugzeug ganz schnell rückwärts um die Erde flitzen, sondern ich muss... ich muss..."
"Diese Erkenntnis hast du schon mal jenen voraus, die noch immer mit Flachdenken beschäftigt sind: nicht horizontal sondern vertikal musst du lernen, dich zu bewegen - du musst die Ebene deines Bewusstseins verlagern: von der materiellen Ebene auf die astrale oder mentale Ebene. Also musst du dazu deinen astralen oder mentalen Körper aktivieren."
"Und warum bin ich nicht bei den Dinosauriern, wenn ich meine Augen zumache und mich auf sie konzentriere?"
"Weil du erst lernen musst, deinen astralen oder deinen mentalen Körper zu gebrauchen. So wie du vor 14 Jahren angefangen hast, deinen neuen irdischen Körper zu gebrauchen, damit er dir halbwegs zuverlässige Informationen aus der Welt von Raum und Zeit vermittelt."
"Und wenn ich meinen mentalen Körper richtig gebrauchen kann? Kann ich dann eingebildete Sachen von wirklicher Vergangenheit unterscheiden?"
"Das gelingt nicht jedem, nebenbei bemerkt. - Es gibt auf der mentalen Ebene nach Aussagen mancher Okkultisten die so genannte 'Akasha-Chronik', so eine Art Welt-Gedächtnis für Vergangenes und Zukünftiges. Und wer in dieser Chronik zu lesen vermag, tut das so ähnlich, wie wir Normalsterblichen uns eine Kassette anhören oder ansehen. Jedenfalls behaupten das manche Hellseher oder medial begabte Menschen."
"Aber wie kann man sich denn an etwas Zukünftiges erinnern?"
"Vergiss nicht, Sohn, Vergangenheit und Zukunft sind lediglich Phänomene unserer rationalen, äußerst eingeschränkten Sichtweise. Raum und Zeit sind symbolisch verklausulierte Hinweise auf das ewige und unendliche Hier und Jetzt jenes allumfassenden Bewusstseins, in dem wir als winzigste Partikelchen existieren."
In diesem Moment schickte die Morgensonne einen Lichtstrahl in das Zimmer, der genau auf eine Konsole an der gegenüberliegenden Wand traf. Dort stand ein unscheinbares Gefäß aus Messing, eine kleine Öllampe, die schon seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden war. Der Großvater folgte dem Blick Michas, dem der Reflex der Sonne ins Auge fiel.
"Volltreffer", grinste der Großvater.
"Aber genau," bestätigte Micha, "was ist das eigentlich für ein Teil?"
"Ein Öllämpchen aus Persien. Ich hab's schon lange nicht mehr benutzt. Wenn es dich so anstrahlt, vielleicht hat es dir etwas zu sagen?"
"Mir?"
"Warum nicht? Es ist immerhin ein etwas ganz besonderes. Wenn du es entzündest, weckst du nämlich seine magischen Kräfte. Ich schenke es dir."
Der Großvater nahm das alte Lämpchen vom Bord, rieb es mit seinem Ärmel und stellte es vor Micha auf den Tisch.
"Ich glaube, dass auch noch ein bisschen Öl im Hause ist. Also - willst du sie nicht mal ausprobieren? - Aber sei vorsichtig mit deinen Wünschen. Entscheide dich nur für Sachen, die du auch verantworten kannst. Und erwarte keine Wunder: die Naturgesetze kannst du damit nicht aufheben."
"Dann wird wohl auch kein Geist erscheinen und nach meinem Begehr fragen?"
"Jedenfalls kein Geist wie aus 1.001 Nacht."
"Gott sei Dank. Ich würde auch ziemlich erschrecken."
Der Großvater nickte lächelnd:
"Ich auch, fürchte ich. "
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