"Nun haltet endlich euer gottverdammtes Schandmaul!" brüllte ein hünenhafter Mann zum Inquisitor hinüber, "wir wollen die Botschaft der Krähe hören! Nun…," wandte er sich dann an die Frau mit dem weinenden Kind, "…was sagt die Krähe?"
Der Inquisitor war angesichts dieser Respektlosigkeit dermaßen sprachlos, dass er nur nach Luft schnappte, wie ein Fisch, den man aus dem Wasser holt. Und auch die Umstehenden waren verstummt, denn sie hätten gern die Antwort des hohen Herrn gehört.
"'Schickt einen Unterhändler', ruft die Krähe", sagte die Frau nun zu dem Hünen, der sie gegen den Inquisitor in Schutz genommen hatte.
Im gleichen Moment kam wieder eine so gewaltiger Feuerwalze direkt gegen die Stadtmauer, dass die geschmiedeten Angeln des schweren Portals sich wie Wachs bogen und die mächtigenen, eisenbeschlagenen Holztore zu Boden stürzten, wobei sie mehrere Menschen unter sich begruben. Es wurden schreckliche Schreie laut, Weinen und Fluchen.
"So schickt doch endlich einen Unterhändler, oder sollen wir hier alle sterben?!" rief eine aufgeregte Frau mit einem sehr dünnen Mund und schriller Stimme, "hat denn niemand Mut von diesen Mannsleuten? Soll ich vielleicht gehen?!"
Im gleichen Moment bebte die Erde und zwei der schmalgiebeligen Häuser stürzten in sich zusammen. Erneutes Geschrei, Rufen und Rennen setzte ein.
"Still, verdammt nochmal", rief der Hüne jetzt, "der Rabe... was will er denn?!"
"Ich kann es nicht verstehen, bei diesem Lärm...", sagte die Frau mit dem Kind auf dem Arm.
"Hexe!", zischelte der Großinquisitor, "dir wird dein Geschwätz noch vergehen."
"...der Rabe sagt: 'der Unterhändler sei Michael "
"Was für ein Michael?" überlegte Micha, "hier gibt es ja hoffentlich auch noch andere."
"Dieser Michael?!" ruft jetzt jemand aus der Menge und deutet auf den erschrockenen Micha.
"Bist du Michael?" fragten die Leute in seiner Nachbarschaft und Micha nickte wortlos.
"Also, dann geh', worauf wartest du noch", drängte und schob man Micha nun in Richtung Stadttor, "frag den Drachen, was er will. Lass dich nicht einschüchtern. Sag ihm, wir werden ihm die Soldaten schicken, wenn er sich nicht trollt. Oder locke ihn nach Oberbergbach, da gibt es mehr zu holen."
Wieder schoss eine Feuerlohe über den Marktplatz hin, so dass eines der Häuser direkt an der Stadtmauer Feuer fing. Zu der allgemeinen Aufregung gesellte sich jetzt auch noch der Brand, der auf die Nachbarhäuser überzugreifen drohte.
"Wasser! Schnell! Holt Wasser! Mein Haus brennt!" rief jemand.
"Hol dir dein Wasser doch selber, elender Wucherer!" rief ein Anderer.
"Wir werden alle sterben!" hörte man nun, "das ist der Untergang!"
Micha fühlte sich von vielen Händen zur Stadtmauer geschoben, er konnte sich nicht widersetzen.
"Hoch, Michael, unser Retter!" rief jemand von denen, die ihn fortschoben.
"Er soll leben!" stimmten andere Rufer ein und schoben ihn weiter. Micha fühlte sich wie betäubt.
Als er durch das zerstörte Stadttor geschoben wurde, strahlten die steinernen Mauern eine glühende Hitze aus. Unter den verkohlten Holzbohlen des Tores hörte er einzelne schwache Rufe von Verletzten, Eingeklemmten. Aber niemand kümmerte sich darum.
Schon stand Micha mutterseelenallein draußen, vor dem Tor; seine Begleiter waren hinter der Stadtmauer geblieben. Der Boden bebte jetzt so stark, dass ein Teil der Mauer zusammenstürzte. Auch hörte man neuerliche Schreckensrufe.
Noch nie hatte sich Micha so verlassen gefühlt wie in diesem Augenblick. Dennoch wusste er, dass ihm keine Wahl blieb und er machte sich auf den Weg zu dem Drachen.
"Vielleicht kann man mit ihm reden und er ist gar nicht so böse."
Micha schaute überrascht auf. Neben ihm gingen ein Junge und ein Mädchen in seinem Alter. Offenbar waren sie Zwillige, denn sie unterschieden sich nur durch ihre Kleidung voneinander.
'Dideldie und Dideldum! Wo kommt ihr denn plötzlich her?' wunderte sich Micha.
"Wir könnten versuchen, mit einem Steinwurf den Drachen zu töten, genau zwischen die Augen. Wie bei David und Goliath."
Diese Stimme kam von jemandem, der vor Micha ging, etwa zwei Schritt voraus. Das fand Micha nun aber doch äußerst merkwürdig. Wer war denn nun dieser Junge? Und direkt neben ihm ging ein Mädchen, ein sehr hübsches noch dazu. Jetzt erkannte er Sandra. Und der Junge war wohl Martin.
"Das wird ein Spaziergang, Leute, ich sag's euch. Wir haben alles im Griff, glaubt's mir", sagte Ralph zuversichtlich.
"Okay", meinte Micha, "ich glaub', du hast Recht. Aber bitte keine Extratouren. Alles hört auf mein Kommando."
Inzwischen hatte die Gruppe jene kleine Anhöhe fast erreicht, von wo aus man ins Tal nach Oberbergbach hinunterschauen konnte. Als wiederum ein gewaltiges Beben die Erde erzittern ließ, klammerten die Zwillinge sich aneinander, um nicht hinzufallen. Im selben Augenblick schoss direkt vor ihnen - als hätte der Boden sich geöffnet - ein so riesiges Drachenhaupt empor, dass es den Kindern den Atem verschlug. Und es war von so erschreckender Scheußlichkeit und besaß einen so grausam kalten Blick aus starren, grünlichen Glitzeraugen, dass sie alle stumm waren vor Schreck. Nun hob sich auch der Drachenschwanz aus der Talsenke und schlug mit einer zornigen Bewegung dermaßen hart auf den Boden auf, dass Micha die Kiefer gegeneinander klappten.
Der Kopf des Drachen überragte sie wie der Wipfel einer 100-jährigen Eiche, nur eben weniger schön anzusehen - im Gegenteil: aus dem Maul des Ungeheuers troff zu beiden Seiten eimerweise gelber, dampfender Speichel und aus den Nüstern quoll schwefelgelber Rauch, in dem Micha kleine Feuerflammen züngeln sah. Alles in allem war der Anblick so furchtbar, dass Micha dachte, einem solchen Untier möchte er nicht im schlimmsten Albtraum begegnen. Das Ärgste aber waren die kalt glitzernden Augen des Drachen. Sie verbreiteten einen lähmenden Schrecken, der alles zu völliger Bewegungsunfähigkeit erstarren ließ.
Nachdem der Drache die Abordnung der Kinder gemustert hatte, stieß er ein unglaubliches, markerschütterndes Donnergebrüll aus, begleitet von einem nicht minder gewaltigen Feuerstrahl - senkrecht empor in den seltsam bleiernen Himmel, dass Micha Hören und Sehen verging.
"He", zupfte ihn Moni am Ärmel, "hast du nicht gehört, er spricht mit dir!"
Das verwirrte Micha nun vollends.
"Wer?" fragte er.
"Der Drache natürlich!"
"Mit wem!"
"Mit dir!"
"Hähhh?! Ich hab nichts gehört. Was sagt er denn?"
Der Drache schien Micha aber gut verstehen zu können. Er holte noch einmal tief Luft, wobei sein Kopf fast vollständig hinter dem Hügel verschwand - und sodann wieder gewaltig wie beim ersten Mal emporschnellte, um einen Feuerstrahl mit Donnergetöse in den Himmel emporzuspeihen, so dass Micha sekundenlang blind und taub war.
"Tut mir leid", sagte Micha, als er wieder halbwegs bei Sinnen war, "ich habe kein Wort verstanden."
"Drei Bürger aus der Stadt will er zum Fraß haben", sagte Moni, "dann bleiben die anderen verschont."
"Na gut", dachte Micha, "solange er von uns nichts will..."
"Das ist verdammt egoistisch gedacht!", sagte der hagere Klaus.
Micha war einen Moment verblüfft. 'Kann der etwa Gedanken lesen?', dachte er. Klaus schwieg und Micha wendete sich wieder dem Drachen zu.
"Martin und Sandra sollen als Pfand hierbleiben", übersetzte Moni weiter, "wenn du nicht zurück bist, wenn es vom Kirchturm 7 schlägt, will er sie beide fressen."
Das Mädchen deutete auf Martin und Sandra.
"Das hat dieser blöde Drache wirklich gesagt?!" fragte Micha zornig.
Als wenn er es verstanden hätte, nickte der Drache mit seinem hässlichen Kopf. Kann denn hier jeder gedankenlesen, nur ich nicht? fragte sich Micha. Und schon wieder nickte der Drache. Das erschien Micha nun wirklich unglaublich. Mutig ging er noch einen Schritt auf den Drachen zu, von dem er bisher nur den Kopf und den Schwanz gesehen hatte. Doch nun überblickte er das ganze Tal, in welchem das Albtraum-Ungeheuer sich ringelte: dieses Scheusal war absolut keine Täuschung; mit seinem glänzenden, schuppigen Leib und seinen vier hässlichen Krallenfüßen reichte es bis hinüber nach Oberbergbach, das übrigens vollkommen zerstört und nur noch als ein Haufen von Ruinen zu erkennen war.
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