"Der schreckt vor nichts zurück!" dachte Micha.
Wie zur Bestätigung schlug das Ungeheuer sogleich seinen fürchterlichen Drachenschwanz noch einmal mitten hinein in das Trümmerfeld des ehemaligen, schmucken Nachbardörfchens dort unten im Tal, so dass der Boden bebte und sich riesige Staubwolken erhoben, in denen man Dachsparren und Holzbalken hüpfen sah, als hätte jemand mit einer Riesenfaust in ein gigantisches Mikadospiel geschlagen.
Nein, es stand für Micha nun ganz außer Frage, die Lage war hochdramatisch! Und wollte er noch größeren Schaden abwenden, so musste er sich beeilen.
"Wie erfahre ich die Namen der drei Bürger?" fragt Micha.
"Du wirst sie erfahren, wenn du in der Stadt bist", sagte seine Dolmetscherin.
"Vergiss nicht das Wiederkommen", rief Martin, "und beeil dich."
Sandra umarmt Micha und sagte:
"Ich weiß, dass du zurückkommen wirst."
"Wenn nicht, werden wir dich holen!" grinste Martin
"Keine Angst, ich komme zurück." Mit diesen Worten machte sich Micha mit den anderen Kindern eilends auf den Weg zurück in die Stadt.
Dort wurde er schon ungeduldig erwartet: ein paar der Bürger hatten sich sogar bis vor die Stadtmauer hinaus gewagt.
"Nun, was hast du erreicht? Wie sieht der Drache aus? Ist er fort? Erzähle!" riefen alle durcheinander. Micha stellte sich auf den Rand des Brunnens in der Mitte des Marktplatzes, damit ihn alle verstehen konnten und sagte:
"Es gibt nur eine Chance, dass der Drache diese Stadt verschont. Wir müssen ihm drei ihrer Bürger ausliefern, die er mit Haut und Haaren fressen wird."
"Auf keinen Fall", rief der Mann, der vorhin den Inquisitor angefahren hatte, "hier wird niemand ausgeliefert."
"Aber selbstverständlich werden wir drei Menschen opfern, wenn wir damit die anderen retten!" rief der Großinquisitor, "Stadtkommandant, holt Eure Männer zusammen, man soll auch Stricke und Eisen mitbringen."
"Kommt nicht in Frage“, rief der Bürgermeister, den man an seiner schweren Amtskette auf der Brust erkannte, "hier gebe ich die Befehle! So wahr ich hier stehe! Wir werden uns dem Diktat dieses Ungeheuers nicht beugen!"
"Meint er den Inquisitor?" überlegte Micha.
In diesem Moment drängte der Stadtkommandant auf der Suche nach seinen Leuten am Bürgermeister vorbei, so dass dieser mitsamt seinem prunkvollen Ornat im Schlamm des Marktplatzes landete.
"Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit", drängte Micha zur Eile, und wie zur Bestätigung seiner Warnung erbebte der Erdboden neuerlich so gewaltig, dass weitere drei der schmalen Giebelhäuser in sich zusammenbrachen.
Der Stadtkommandant tauchte endlich mit seinen Leuten auf. Die Männer hatten ihre Uniformen in allerhöchster Eile angezogen und waren zum Teil äußerst nachlässig dabei verfahren. Der Müller hatte seinen zweirädrigen Karren herbeigeholt, vor den er seinen Esel gespannt hatte. Micha atmete erleichtert auf:
"Und nun die Namen... - als ersten: Bertold Besewichtel!" hörte er sich ausrufenen. "Wie komme ich auf diesen Namen", dachte er bei sich, "und warum ist er mir so vertraut? Wieso ist mir dieser Name nur so merkwürdig vertraut?"
Der rundliche Ralf schien seine Gedanken lesen zu können:
"Dies ist kein gewöhlicher Marktplatz, auf dem wir uns befinden", sagte er leise zu Micha; "dieser Marktplatz ist ein Symbol. Die Menschen, die du hier siehst, sind nicht räumlich von dir getrennt, sondern zeitlich."
"Sieh da, der Herr Inquisitor Besewichtel!" rief die Frau mit dem Kind auf dem Arm, die vorhin als Hexe beschimpft worden war.
Die Stadtwache hatte den Inquisitor sofort ergriffen, als Micha dessen Namen verkündete.
"Loslassen!" kreischte der Inquisitor und versuchte vergeblich, sich zu befreien, "loslassen! Das wird euch teuer zu stehen kommen! Bürgermeister, ich bringe euch alle auf den Scheiterhaufen. In drei Teufels Namen!"
Die Stadtsoldaten taten ausnahmsweise ihre Pflicht schnell und präzise. Ehe man ihm einen Knebel aus einem Streifen seiner seidenen Robe in den Mund stopfte, konnte er nur noch fragen:
"Aber warummmh..."
"Wegen hundertfachen Folterns und Mordens unschuldiger Mädchen und Frauen, die Ihr der Hexerei beschuldigt habt, wider besseres Wissen!" hörte Micha sich zu seinem eigenen Erstaunen laut verkünden. Und leise zu Ralf fuhr er fort: "das verstehe ich nicht: ein Raum ist ein Raum und Zeit ist Zeit."
"Raum ist nur ein Symbol für die Zeit." antwortete Ralf.
Die Gegenwehr des Inquisitors erlahmte rasch. Der körperlichen Übermacht der Stadtsoldaten war er nicht gewachsen. Fast augenblicklich war er in eine schwere, klirrende Eisenkette gewickelt und als verschnürtes Paket auf den Eselkarren geworfen worden.
"Der nächste ist Willi Wemir." rief Micha.
Auch dieser Name erschien ihm wiederum seltsam vertraut. Richtig! Nun war er sich sicher - das war er ja selbst. Oder etwa nicht? Nein, wohl doch nicht.
"Der Ochsenwirt!" rief der Stadtkommandant, "ergreift ihn!"
"Hier gebe ich die Befehle!" schrie der wütende Bürgermeister, der sich den Schlamm von den Kleidern wischte, "ergreift den Ochsenwirt!"
"Seltsam", dachte Micha, " er ist Willi Wemir - aber wer bin dann ich ?" und laut sagte er:
"Habgier hat ihn dazu getrieben, einen Reisenden, der bei ihm übernachtete, zu erschlagen und im Keller seiner Schenke zu vergraben."
Und leise zu Ralf gewandt, fuhr Micha fort: "Raum ist ein Symbol für die Zeit?"
Der nickte:
"So, wie Zeit nur ein Symbol ist für den Raum." ergänzte Ralf wissend.
Micha versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, aber es gelang ihm irgendwie nicht so recht:
"Aber Zeit vergeht - und Raum besteht."
"Du vergisst, dass sich die Erde dreht...", sagte Ralf, während man den Ochsenwirt in Ketten legte, "...bewege dich durch die Zeit - dann verschwindet der Raum. Oder bewege dich durch den Raum - dann verschwindet die Zeit."
"Wenn alle diese Leute nicht räumlich von mir getrennt sind, sondern zeitlich... das bedeutet... das bedeutet..."
Aber Micha konnte sich beim besten Willen nicht konzentrieren, so sehr er sich auch bemühte. Der Ochsenwirt, trotz seiner verzweifelten Gegenwehr, war schnell geknebelt und verschnürt und zum Inquisitor auf den Karren gelegt worden.
"Der dritte Name lautet Lisa Lieblos", verkündete Micha.
Ihm wurden die Knie weich, als er diesen Namen aussprach.
"Treibt da jemand mit mir einen schlimmen Scherz?" grübelte er.
Doch weshalb er das dachte... er wusste es nicht.
Man hatte die Frau mit den schmalen Lippen sofort ergriffen, und noch ehe sie protestieren konnte, hatte sie einen Knebel im Mund. Auch sie wurde verschnürt und zu den beiden anderen auf den Karren gelegt.
Während schon der Müller seinen alten, geduldigen Esel antrieb, verkündete Micha:
"Wer sein Kind tötet, auch wenn es noch ungeboren ist, macht sich des Totschlags schuldig!"
An Ralf gewandt, flüsterte Micha:
"Wie können denn Leute, die früher gelebt haben, gleichzeitig mit mir hier sein?"
"Ich sagte es dir schon", antwortete Ralf geduldig, "die Zeit ist ein Symbol für den Raum."
"Wenn die Zeit ein Symbol ist für den Raum... das heißt doch... das bedeutet..."
"Was bedeutet es?" grinste Ralf, als er Michas vergebliches Bemühen um einen klaren Gedanken sah.
"Das bedeutet... also, das heißt..."
"Siehst du?" hörte Micha die hässliche Frau neben sich zu ihrem Mann sagen, "ich habe es doch gewusst, sie ist auch noch eine Kindsmör..."
Aber dieser Satz wurde nicht zu Ende gesprochen, weil in eben diesem Moment ein erneutes Beben den Marktplatz erschütterte, so dass die Brunnenfigur auf ihrem Sockel zu wanken begann - es war eine steinerne Darstellung des Gottes der Meere - , herabstürzte und mit seinem eisernen Dreizack die häßliche Frau aufspießte, so dass sie nur bis 'Kindsmör...' kam. Die Umstehenden wandten sich schaudernd ab und die weiter Entfernten reckten die Hälse.
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