"Der Drache wird ungeduldig", dachte Micha. Die Erde bebte nun schon fast ohne Unterbrechung. Man zog und schob den widerstrebenden Esel, sein Name war Ludwig, mitsamt dem Karren hinaus vor die Stadtmauer.
Micha musste all seine Überredungskünste aufwenden, um Ludwig zu einer schnelleren Gangart zu bewegen. Der Weg war recht holprig und die drei menschlichen Pakete in ihren klirrenden Ketten wären schon bald von dem Karren gefallen, wenn die Soldaten sie nicht so gut festgebunden hätten.
"Das ist seltsam", sagte Micha zu Ralf, "wenn die Zeit... wie war das?"
Ralf hatte einen Stein aufgelesen und mitten auf den staubigen Weg einen senkrechten Strich gemalt. Micha wollte deshalb den Esel zum Anhalten bewegen, aber jetzt wollte Ludwig lieber weiterlaufen. Schließlich kam der Karren doch noch zum Stehen und Micha rannte zu Ralf zurück, der inzwischen auch noch eine Querlinie hinzugefügt hatte, so dass ein Kreuz entstanden war.
"Dieser Strich hier", sagte Ralf und deutete auf die senkrechte Linie, "bezeichnet die Zeit - und dieser waagerechte Strich bezeichnet den Raum."
"Hehhh..." rief der Inquisitor heiser von dem Karren herüber. Es war ihm nämlich geglückt, den Knebel auszuspucken, doch die Stimme versagte ihm. Micha sah nur kurz hinüber. Der Inquisitor wackelte mit seinem Kopf, um auf sich aufmerksam zu machen, denn das war der einzige Körperteil, den er bewegen konnte. Ludwig, der Esel, blieb von dem heiseren Gekrächz unbeeindruckt. Er rupfte ein paar Blätter von den Büschen am Wegesrand.
"Hier in der Mitte", sagte Ralf, "wo sich die beiden Linien kreuzen, treffen sich Raum, und Zeit zum 'hier und jetzt' dieses Augenblicks. Verstehst du?"
Micha nickte.
"Wenn du mir diese Ketten abnimmst", rief der Inquisitor heiser, "könnte ich eine Menge für dich tun, mein Sohn! Weißt du, dass ich ein mächtiger Mann bin?"
Micha fand diese Behauptung ziemlich übertrieben und hörte nicht weiter hin.
"Auf diesen Kreuzungpunkt", fuhr Ralf fort, "starren wir wie das Kaninchen auf die Schlange und denken, hier sei die Wahrheit und das Leben - so wie wir ja auch lange glaubten, die Erde sei eine Scheibe."
"Ich könnte beim Papst ein Wort für dich einlegen. Er ist ein guter Freund von mir. Wir kennen uns noch vom Schulhof. Er kann dich zum Erzbischof ernennen!" rief der Inquisitor herüber, "du wärest einer der mächtigsten Männer in der Gegend, bräuchtest nie mehr Sonntags in die Kirche gehen. Aber du musst mich jetzt losbinden. Hast du mich verstanden? He, Michael!"
"Und weißt du", fuhr Ralf fort, "woher dieser Trugschluss kommt?"
Micha sah Ralf neugierig an. 'An wen erinnert er mich nur?' dachte er für einen Moment.
"Wir halten Raum und Zeit für Realität", fuhr Ralf grinsend fort, "das ist so, als hielten wir die Erde für eine Scheibe. Aber das Zeitalter des Wassermanns bringt uns eine neue Dimension der Wirklichkeit: die Dimension der Symbole, die Welt der Ideen, die sich in Raum und Zeit manifestieren."
Wo hatte Micha das schon gehört?
Inzwischen war es auch dem gefesselten Wirt gelungen, sich von seinem Knebel zu befreien.
"Wenn du mich laufen lässt", rief er zu Micha hinüber, "mache ich dich zu einem wohlhabenden Mann. Ich habe eine Menge Goldmünzen in meinem Keller vergraben. Sie gehören alle dir, wenn du mich losbindest!"
"Er hat seine Gäste nachts in ihren Betten erschlagen und sie im Keller seines Gasthauses verscharrt!" kreischte der Inquisitor, "an seinen Händen klebt Blut!!!"
"Nicht soviel wie an deinen!" gab der Gastwirt zurück, worauf der Inquisitor vor Empörung verstummte.
Ralf hatte einen Stecken aufgelesen und ihn senkrecht auf den Kreuzungspunkt seiner beiden Striche gestellt.
"Schau", sagte er zu Micha, "wo dieser Stock das Kreuz berührt, ist unser Bewusstsein zentriert, am Kreuzungspunkt von Raum und Zeit. Hier oben, wo der Stock zu Ende ist, können wir unser Bewusstsein aber auch zentrieren. Es erfordert nur, zum Vertikaldenker zu werden.
Am oberen Ende dieses Stabes verbinden sich Tiefe und Höhe, Vergangenheit und Zukunft, zum ewigen Hier und Jetzt."
Das Klirren vom Karren her ließ Micha aufblicken. Jetzt hatte sich auch die Frau ein wenig befreien können. Aber nur ihre Beine hatte sie aus den Ketten gelöst. Der Knebel in ihrem Mund hinderte sie noch immer am Sprechen. Also bewegte sie ihre Beine, um Micha etwas mitzuteilen, aber der wusste nicht, was sie meinte.
"Hör nicht auf sie", sagte Ralf, obwohl gar nichts zu hören war, außer dem Klirren der Ketten.
"Das Ganze sieht ja aus wie eine Pyramide", sagte Micha.
"Es ist eine Pyramide, ein Symbol für die drei Dimensionen der Schöpfung."
Micha erwachte auf einem nassgeschwitzten Kopfkissen. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren - ach ja... er war im Haus des Großvaters.
Draußen, vorm Fenster, wurde es langsam hell.
'Was für ein dummes Zeug ich da wieder zusammengeträumt habe', überlegte er. 'Und dieser abscheuliche Drache, entsetzlich - ein wirkliches Albtraummonster. Und was hatte dieser Ralf im Traum zu ihm gesagt...?' grübelte Micha, aber was es auch war... er konnte sich nicht erinnern... hing es nicht irgendwie mit der Zeit zusammen?
Ihm fiel ein Experiment ein, über das im Physikunterricht gesprochen worden war. Es ging um zwei supergenaue Atomuhren. die eine davon war auf der Erde installiert und die andere in einem Flieger, der die Erde umkreiste. Als der Flieger wieder landete, und man die beiden Uhren miteinander verglich, war es auf der Uhr am Boden später, als auf der im Flieger. Also war die Zeit während des Fluges langsamer verlaufen.
Wenn man also einen Flieger bauen könnte - überlegte Micha, da jetzt an Schlaf nicht mehr zu denken war - der nur schnell genug wäre, könnte für die Passagiere die Zeit stillstehen. Oder, wenn er noch schneller wäre, könnte man sogar in die Vergangenheit oder Zukunft reisen. Oder war das Unsinn?
Ein wirklich seltsamer Gedanke, grübelte Micha. Theoretisch konnte man vielleicht sich selbst in einem anderen Jahrhundert besuchen - man musste nur mit seinem Flieger sehr viel Raum in sehr wenig Zeit bewältigen; man müsste wohl viel schneller sein als das Licht, oder - noch schneller als die Zeit .
"Schneller als die Zeit?" fragte der Großvater beim Frühstück, als Micha ihm von seiner Idee erzählte, " wie schnell ist denn die Zeit ?"
"Ich weiß", überlegte Micha, "das hört sich seltsam an."
"Keineswegs", meinte der Großvater. "Überlegen wir doch mal: Zeit messen wir in Stunden beispielsweise. Einverstanden? Und eine Stunde ist der 24. Teil jener Bewegung, die unsere gute, alte Erde braucht, um sich einmal um sich selbst zu drehen. Also ist Zeit Bewegung im Raum. Und zwar", fuhr der Großvater fort, "Bewegung auf der Erde in Relation zur Bewegung der Erde um sich selbst und um die Sonne. Einverstanden?"
Micha nickte.
"Nennen wir die Bewegungen auf der Erde den 'kleinen Raum' im Unterschied zur Bewegung der Erde selbst im 'großen Raum'.
Will man nun die Zeit in ihrer Geschwindigkeit verändern, sie beispielsweise langsamer laufen lassen, so muss man die Bewegung des 'kleinen Raumes' - in dem wir die Zeit manipulieren wollen - dem Tempo der Bewegung des 'großen Raumes' ein bisschen mehr annähern - und sie läuft langsamer!“
„Und wie geht das?“ fragte Micha und schaute den Großvater ungläubig an.
„Würdest du in einem Superflieger mit Lichtgeschwindigkeit von hier nach Los Angeles starten, du wärst in null-komma-nix dort angekommen - und acht Stunden jünger wärst du auch. Würdest du aber in die andere Richtung flitzen, nach Tokio zum Beispiel, du würdest in der gleichen Zeit acht Stunden älter geworden sein." antwortete der Großvater mit einem süffisantem Lächeln.
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