"Also...", überlegte Micha einen Augenblick, "mein Traum von dem leeren Weiher heißt..."
"...zunächst einmal noch nichts besonderes. Er könnte eine Bedeutung haben, oder auch nicht." unterbrach ihn der Großvater.
"Aber weil am anderen Morgen das Wasser wirklich weg ist, hat er eine besondere Bedeutung." fuhr Micha fort.
"Jedenfalls könnte er eine haben, weil du in dieser Gleichzeitigkeit keinen Zufall siehst." meinte der Großvater weiter.
"Ich hole das Wörterbuch..." Micha erhob sich von seinem Stuhl.
"Weil dir der Name Koinzidenz in den Sinn kommt?" fragte der Großvater.
"Ach ja. Ich will nachgucken was das Wort bedeutet, aber das Buch schlägt sich bei 'Philosophie' auf. Das bedeutet, dass mein Traum und die Gleichzeitigkeit etwas mit Philosophie zu tun haben." meinte Micha während er zum Bücherregal ging.
"...können.“ ergänzte der Großvater und fuhr fort: „Es kommt darauf an, was du bereit bist, zu verstehen. Es kann zum Beispiel sein, dass du jetzt das Fahrrad des Briefträgers klingeln hörst und hinausläufst, weil du einen Brief erwartest. Es ist wirklich ein Brief gekommen und während du ihn liest, vergisst du deinen Traum. Dann hätten diese drei Zufälle für dich keine weitere Bedeutung.
Es könnte aber auch sein, dass du nicht abgelenkt wirst und über diese Geschichte nachdenkst. Dann könntest du zu dem Schluss kommen, dass unsere Gespräche über die okkulte Philosophie den Effekt haben, dir - symbolisch gesprochen - den Grund des Sees zu zeigen, den man normalerweise nicht sieht, weil er unter der spiegelnden Wasseroberfläche verborgen ist."
"Klar. Dieser Grund ist ein Symbol für das Okkulte. - Aber wie funktioniert das? Wie kommt es, dass der Traum, die Wirklichkeit und das Buch gleichzeitig auftauchen?" Micha ließ von seinem Vorhaben, das Wörterbuch zu holen ab und setzte sich wieder.
"Tja, ich fürchte, darauf gibt es keine definitive Antwort. Aber da wir beide jetzt schon wissen, dass die Wirklichkeit unseres täglichen Lebens von unserem Überbewusstsein für uns gestaltet wird, und dass andererseits unsere Träume aus dem Unterbewusstsein in unser Bewusstsein hinaufsteigen, so kann man davon ausgehen, dass alle drei Bewusstseinsstufen zusammengearbeitet haben, um dir so ein Erlebnis von 'Koinzidenz' zu bescheren.
Anders ausgedrückt: wann immer du eine solche Synchronizität erlebst, erfährst du einen Moment der Harmonisierung oder der Einheit - und du bist in deiner Mitte. Denn solange Oben und Unten, Innen und Außen, miteinander im Gleichklang sind, so sind es auch Raum und Zeit, Geist und Materie, Vergangenheit und Zukunft. Und dann sind Yin und Yang vereint zu einem Augenblick vollkommenen Bewusstseins, in dem Körper zu Geist wird und Gegenwart zu Schöpfung."
"Hmm... Und wozu ist das gut?" fragte Micha ungläubig.
"Um zu vestehen, dass du deinem Ziel wieder ein bisschen näher gekommen bist, jenem Ziel, nach dem du schon ungezählte Leben hindurch auf diesem Planeten suchst, ohne davon zu wissen, ohne dich zu erinnern, ohne es zu verstehen." gab der Großvater zurück.
"Hmm, verstehe." Micha kratzte sich wieder nachdenklich am Kopf. „Alles gar nicht so einfach zu verstehen“, dachte er bei sich.
"Gut. Wenn wir nun unser Verständnis von der Koinzidenz auf die Orakel anwenden, die wir vorhin mal kurz gestreift hatten, oder auf alle Formen von 'Divination' oder Wahrsagerei, bedeutet das also: die Menschen gehen zum Hellseher oder Chiromanten oder Astrologen, nicht nur, um - wie sie glauben - etwas über die Zukunft zu erfahren, sondern deshalb, weil sie bereits so unruhig träumen, dass sie ganz allmählich beginnen, aufzuwachen."
"Was ist denn ein Chiromant, Großpapa?" fragte Micha.
"Ein Chiromant kann aus den Handlinien eines Menschen Rückschlüsse ziehen auf dessen Persönlichkeit und den Verlauf seines Lebens."
"Wie ein Astrologe?" Micha schaute seine Handinnenflächen an, als ob er etwas darin erkennen könnte.
"Ja. Oder zumindest so ähnlich." meinte der Großvater.
"Obwohl er doch was ganz anderes macht als ein Astrologe?" wollte Micha wissen.
Der Großvater nickte.
"Der Astrologe betrachtet die Turmuhr von Norden. Der Chiromant dagegen von Süden, der Wahrsager betrachtet sie von Westen und der Kartenleger von Osten. Aber sie alle schauen zur Turmuhr.
Wenn du möchtest, können wir uns das nächste Mal noch ein bisschen über die Wahrsagerei im Altertum unterhalten." Der Großvater nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen.
"O Klasse." rief Micha und gähnte.
"Für heute machen wir Schluss, wenn du einverstanden bist. Ich wünsche dir eine gute Nacht." meinte der Großvater und gähnte ebenfalls.
Diesesmal hatte Micha weniger Schwierigkeiten mit dem Einschlafen. Und er hatte einen seltsamen Traum.
Er befand sich inmitten einer größeren Menschenansammlung auf dem Marktplatz eines altertümlichen Städtchens.
Die schmalbrüstigen Fachwerkäuser drängten sich aneinander, als wollten sie sich gegenseitig stützen. Weder schien die Sonne, noch der Mond, dennoch waren alle Details der Szenerie deutlich zu erkennen.
Die Menschen um ihn herum waren mittelalterlich gekleidet und - sie befanden sich in einem allgemeinen Aufruhr. Man rief und rannte durcheinander, aber ohne eine erkennbare Ursache. Niemand nahm von Micha Notiz.
"Die Soldaten müssen her!" rief jemand.
"Soviel Zeit bleibt uns nicht!" antwortete ein anderer.
Jetzt verspürte Micha ein starkes Schwanken des Bodens, so als stünde er auf einer sehr großen Götterspeise.
"Rette sich wer kann!" schrie ein Dritter.
"Wir sind verloren, das ist das Ende!" riefen Andere durcheinander.
Eine hysterische Frauenstimme begann zu kreischen, Kinder weinten. Es war Micha, als sollte die Welt untergehen. Das Geschiebe und Gerenne um ihn herum wurde immer hektischer.
Plötzlich erhob sich jenseits der Stadtmauer ein gewaltiger Feuerschein und fast gleichzeitig drang ein so markerschütterndes Donnergebrüll herüber, dass alle vor Schreck erstarrten, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Danach wurde das Gedränge umso aufgeregter. Micha konnte sich nicht erklären, was da vor sich ging.
"Der Drache! So haltet ihn doch auf! Er wird uns töten!" schrie eine junge Frau mit einem weinenden kleinen Kind auf dem Arm. Sie stand direkt neben Micha.
"Was denn für ein Drache?" fragte Micha. Aber niemand beachtete ihn.
Jetzt kam aus der Richtung des Feuerscheins eine Krähe über die Stadtmauer geflattert und kreiste über dem Marktplatz.
"Ein Zeichen!", rief jemand, "ein Zeichen!"
Die Krähe ließ ein ebenso lautes wie misstönendes Krächzen über der Menschenmenge hören.
„Krah, kraah!“
"Still!" rief die Frau mit dem Kind auf dem Arm und deutete nach oben, "...eine Botschaft!"
Ein Vogel mit einer Botschaft - davon hatte Micha noch nie gehört - oder doch?
"Da schau her! Diese Frau hört Raben sprechen!", rief jetzt jemand hinter Micha. Es war ein wohlbeleibter Mann in einer kostbaren, gelbgoldenen, seidenen Robe. Auf seiner Brust hing an einer schweren Goldkette ein reich verziertes, mit Edelsteinen besetztes massives Goldkreuz.
"Der Großinquisitor!", raunte jemand neben Micha.
"Sie wird eine Hexe sein", fuhr der Großinqisitor fort, indem er sich an die Umstehenden wandte, "wer sonst hört Raben sprechen! Die Folterbank ist dir sicher, mein schönes Kind. Ich werde mich persönlich um dich kümmern."
Die beiden letzten Sätze hatte er etwas leiser und mit einem wirklich teuflischen Grinsen gesprochen. Die junge Frau sah ihn nur mit schreckgeweiteten Augen sprachlos an. Nun wandte der Inquisitor sich wieder an die Menge:
"Dieser Hexe hier haben wir das Unglück zu verdanken! Sie hat den Drachen herbeigehext! Auf den Scheiterhaufen mit ihr!!"
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