"Lass uns die Polizei holen." sagte Micha leise
"Warte einen Moment hier, ich schau mal ins Badezimmer", flüsterte Mam und schon hatte sie das Zimmer durchquert. Auch die Badezimmertür war nur angelehnt. Mam öffnete sie vorsichtig und sah sich kurz um.
Im selben Moment kamen Schritte die Treppe herauf. Micha spürte so etwas wie Panik in sich aufsteigen. Wenn das irgendwelche Agenten waren, konnte es gleich ziemlich unangenehm werden.
"Mam!" versuchte Micha seine Mutter noch zu warnen. Aber es war schon zu spät.
Mam bemerkte Michas erschrockenes Gesicht erst, als sie auch schon die Schritte auf dem Treppenabsatz und gleich darauf auf dem Korridor hörte. Sie eilte zur Zimmertür um Micha und sich einzuschließen, falls die Zeit dazu noch reichen sollte. Doch im letzten, schmalen Spalt, bevor sie dieTür schloss, bemerkte Mam, dass es Frau Krüger war, die sich ebenso eilig wie aufgeregt näherte.
Mam öffnete die Tür wieder und sah Frau Krüger ratlos an.
"Schnell, schnell! Sie müssen fort hier!" sagte Frau Krüger leise aber mit äußerstem Nachdruck, "lassen Sie alles stehen und liegen! Ich habe meinen Schwager benachrichtigt, er leitet den Autoverleih gegenüber vom Rathaus. Er müsste jede Sekunde hier sein!"
"Was ist denn hier bloß passiert?!" wollte Mam wissen, aber Frau Krüger antwortete nur:
"Fragen Sie nicht! Beeilen Sie sich lieber, damit Sie weg sind, wenn die zurückkommen!"
"Wer?", fragte Micha, erhielt aber keine Antwort.
Frau Krüger war ans Fenster getreten. Ein roter Pkw fuhr in diesem Moment vor. Ein Mann mit ein paar Papieren in der Hand stieg aus und sah zu Frau Krüger hinauf. Die deutete ihm mit einem Handzeichen, dass er unten warten solle.
Mam und Micha hatten hastig ein paar Sachen zusammengeräumt, und wollten nun auch die auf dem Boden verteilten Kleider einpacken, aber Frau Krüger schob sie energisch zum Zimmer hinaus.
"Kaufen Sie sich unterwegs, was Ihnen fehlt! Sie müssen jetzt fort!"
"Aber... " wollte Micha protestieren.
"Seid froh, dass ihr gesund und heil seid!" sagte Frau Krüger, "und nicht vorn raus gehen, sondern zur Hintertür. Dort steht der Wagen für Sie!"
"Was bin ich Ihnen schuldig?" stotterte Mam verwirrt.
"Das rechnen wir über die Firma Ihres Mannes ab. Diese Tür, bitte."
Die drei waren im Erdgeschoss angelangt. Frau Krüger sah sich vorsichtig um, ehe sie zu dem wartenden Mann hinüberging, der direkt vor der Tür an dem Wagen lehnte. Der Motor lief. Sie wechselte ein paar Worte mit ihm, nahm das Gepäck von Mam und Micha und warf sie auf die Rücksitze. Der Mann übergab Mam die Papiere und sagte:
"Sie können den Wagen in jeder größeren Stadt zurückgeben. Gute Fahrt!"
Er hielt Mam höflich die Tür beim Einsteigen, während Micha schon auf der Beifahrerseite saß und sich anschnallte. Mam drehte die Scheibe herunter, um sich noch zu bedanken, aber Frau Krüger ließ sie gar nicht zu Wort kommen:
"Fahren sie, um Himmels Willen! Alles Gute!"
Mit diesen Worten verschwand sie in ihrer Hotelpension, gefolgt von ihrem Schwager.
Mam gab Gas.
Nach etwa vier Minuten hatte ihr roter Mietwagen die Ortsmitte erreicht. Ein Streifenwagen mit Blaulicht und Martinshorn kam auf sie zu - und rauschte an ihnen vorbei. Und nach weiteren fünf Minuten war - ohne Zwischenfälle - der Ortsausgang erreicht.
"Was hatte denn das zu bedeuten?!" fragte Micha, als sie sich in gemütlicherem Tempo auf der Landstraße in Richtung Autobahn bewegten.
"Woher soll ich das wissen?" antwortete Mam, die immer wieder mal einen Blick in den Rückspiegel warf, "das solltest du besser deinen Vater fragen. Ich kann dir nur eins sagen: komm mir ja nicht eines Tages und sage, du willst in die Computerbranche! Ich hätte schon damals misstrauisch werden sollen - als dein Vater sagte, er arbeite in einer Softwareschmiede" - das Wort ' Softwareschmiede ' sprach sie aus, als müsse sie sie gleich übergeben - "wieso bin ich nicht auf einen Konditor oder Staubsaugervertreter reingefallen, wieso ausgerechnet auf deinen Vater!"
"Mir geht's auch nicht besser", murrte Micha, "immerhin hab' ich einen Vater, der sich die Hälfte meines Lebens vor mir versteckt gehalten hat!"
"Er hat sich nicht vor dir versteckt sondern vor mir", korrigierte Mam.
"Das ist dasselbe", sagte Micha und dachte: wenn ich mich nicht ein bisschen gekümmert hätte, wäre er noch immer über alle Berge....
Obwohl - andererseits hatte sich gar nicht so viel verändert, seit jener unsichtbare Lampengeist ihm seinen Paps zurück gebracht hatte... nur, früher war sein Vater auf der Flucht vor der eigenen Familie - und jetzt floh die Familie vor... ja vor was eigentlich? Jedenfalls - das Ergebnis war des gleiche.
"Was haben die denn unserem Zimmer gewollt?" fragte Micha.
"Was weiß ich. Das müssen Verrückte gewesen sein." antwortete Mam und blickte immer wieder nervös in den Rückspiegel.
"Aber irgendwas haben sie doch gesucht, oder?" wollte Micha erneut wissen.
"Schatz, tu mir den Gefallen und frag nicht so viel. Je weniger wir wissen, desto besser für uns. - frag' deinen Vater."
"Der ist nicht da. Du kannst mir doch sagen, was sie gesucht haben. Ich erzähl's niemandem weiter, Mam. bitte!"
"Du bist ein Quälgeist. Kannst du dich nicht damit zufrieden geben, nicht alles ganz genau zu wissen?"
"Nein."
"Also - dein Vater war der Ansicht, falls seine merkwürdigen Geschäftspartner ähh... auf ein paar miese Tricks verfallen würden, so..."
"Was denn für miese Tricks?" unterbrach Micha.
"Woher soll ich das wissen. Jedenfalls hätten wir beide vielleicht eine Chance, wenn wir ihnen diese dämliche Software überließen, die sie alle wollen. Also hat uns dein Vater eine Miniversion davon mitgegeben."
"Du hast dieses Programm bei dir?!"
"Ja, in meiner Handtasche." Mam deutet mit dem Daumen nach hinten.
"In der Handtasche?! Sind die hinter deiner Handtasche her?! Lass mal sehen." Micha wollte auf den Rücksitz nach der Handtasch greifen, doch Mam hielt seinen Arm fest.
"Schatz, da gibt es nichts zu sehen - es ist eine CD-Rom in einem Beatlescover. Das ist alles. - Und dabei war diese Pension eine Adresse, die wir von der Firma deines Vaters bekommen hatten."
"Dann hat uns jemand in der Firma an die Konkurrenz verraten?" spekulierte Micha nachdenklich.
"Sieht ganz so aus. Dein Vater sagt, in diesem Laden traut er niemandem mehr."
"Und wir? Was machen wir?" wollte Micha wissen.
"Was meinst du?" Mam schaute stur auf die Straße.
"Ich meine, wo sollen wir jetzt hin?" fragte Micha energisch.
"Keine Ahnung. Ich denke, wir fahren erst mal nach Hamburg, kaufen uns ein paar Sachen und rufen heute Abend deinen Vater an; vielleicht kann er uns sagen, wie es weiter gehen soll." „Wieso rufen wir ihn nicht gleich an?“ erwiderte Micha und deutete auf Mams Handy, das in der Mittelkonsole des Wagens lag. „Probiers, aber ich glaube nicht, dass du ihn jetzt erreichst“, sagte Mam und schaute immer noch fortwährend in den Rückspiegel, doch anscheinend folgte ihnen keiner. Und sie hatte recht, es meldete sich nur seine Mobilbox- Ansage.
Micha drehte seine Sitzlehne ein wenig zurück und streckte die Beine aus. Seltsame Geschichte, dachte er, in die er da hineingeraten war. Dennoch - ihm gefiel diese außerplanmäßige Autofahrt. Schließlich war es ein wunderschöner Sonnentag. Nirgendwo zeigten sich irgendwelche finsteren Verfolger - und der Motor ihres Leihwagens schnurrte wie Großvaters Katze, wenn Micha ihr den Nacken kraulte.
Im Geiste hörte Micha das Ticken der Wanduhr und das Rauschen der alten Linde vorm Fenster. Er hatte den Hauch von Bohnerwachs über den glänzenden Dielenbrettern von Großvaters Arbeitszimmer in der Nase und deutlich sah er vor sich die überquellenden Bücherregale, die bis unter die Zimmerdecke reichten.
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