"Schau dir das an!" sagte Mam voller Begeisterung, "was für ein Ausblick! Micha, willst du das nicht sehen?!"
Micha hatte sich auf sein Bett fallen lassen. Die Bahnfahrt steckte ihm noch in den Knochen.
"Später", sagte er nur.
"Sowas!" wunderte sich Mam und begann ihren Koffer auszuräumen, "da haben wir nun das Meer direkt vor unserem Fenster und du schaust es nicht einmal an."
"Ich schätze, dazu hab ich noch lange genug Gelegenheit", sagte Micha. Er atmete die salzige Luft ein und fand, sie roch nach Sandburgen und Langeweile.
Mam hielt in ihrem geschäftigen Hin und Her inne; sie hatte ihren Beautycase geöffnet und setzte sich mit Handspiegel und Haarbürste in der einen, Tuben und Töpfchen in der anderen Hand, neben Micha aufs Bett.
Sie schien ihm etwas sagen zu wollen, ohne aber zu wissen wie. Schweigend ordnete sie die Utensilien auf der Bettdecke, als wäre das die Ablage im Badezimmer. Micha war gespannt, was nun kommen würde. Dass es etwas Wichtiges war, erkannte er daran, dass Mam - wie immer in solchen Fällen - alle Gegenstände in ihrer Reichweite sinnlos hin und her schob. Geschah so etwas am Esstisch, so ordnete sie Besteck, Blumenvase und Serviettenringe, vor dem Fernseher ordnete sie Salzstangen, Fernbedienung und Aschenbecher; aber im Augenblick taten es auch der Handspiegel, die Cremetiegel und Tuben.
"Ich muß dir noch was zu der Geschichte im Zug sagen", begann Mam schließlich.
"Aha", dachte Micha und starrte zur Zimmerdecke.
"Folgendes - ", fuhr Mam fort, "du weißt ja, woran dein Vater in dieser Firma arbeitet."
Micha rührte sich nicht, obwohl Mam das wohl erwartet hatte. Nach einer kleinen Pause sagte sie:
"Wenn ich ihn richtig verstanden habe, geht es ja wohl irgendwie um das Anzapfen von geheimen Computerdaten."
"Mir erzählt er sowas nicht", murrte Micha.
"Schatz, dein Vater sagt, je weniger wir beide wissen, desto besser für uns."
"Wieso?!" Micha fuhr auf, saß im Schneidersitz auf seinem Bett und schaute seine Mam fragend an.
Micha konnte diese Ansicht seines Vaters nun wirklich nicht teilen.
"Es hängt irgendwie mit Spionage, Satelliten, Geheimdiensten und sonstwas zusammen. Ich weiß es wirklich nicht. Paps ist der Überzeugung, dass da mit ziemlich schmutzigen Tricks gearbeitet werden könnte, weil so viel auf dem Spiel steht, nationale Sicherheit und Milliardenbeträge und so. In der Firma geben sich zurzeit die übelsten Dunkelmänner die Klinke in die Hand, meint dein Vater."
"Deswegen!" sagte Micha. "Deswegen sind wir hier! Wir sind in der Verbannung! Und ich dachte, du wolltest mit mir einfach in die Ferien fahren!!" Micha war ziemlich sauer.
"Das tun wir doch auch, Schatz! Wir sind doch beide in den Ferien. Nur du und ich. Was kümmern uns diese blöden Computer. Wir vergessen das Ganze jetzt einfach und machen uns ein paar wundervolle Tage am Meer. Einverstanden?" Mam nahm seine Hand und hielt sie fest.
"Einverstanden." gab Micha nickend zurück.
"Und kein Wort mehr darüber?" Mam schaute ihn prüfend an.
"Kein Wort." entgegnete Micha
Versprochen?"
"Versprochen. Aber was hat das mit der Oma im Zug zu tun? War sie eine Agentin? Wollte sie uns entführen oder sowas?"
"Schatz..."
"Ich weiß, kein Wort mehr. Aber wo ist sie geblieben? Hat sie sich selber entführt?... Ja, ich weiß. - Und wie lange müssen wir hier bleiben?" Micha ließ sich wieder rückwärts aufs Bett fallen.
"Dein Vater sagt, bis ein paar brisante Geschäfte mit dem Nahen Osten abgewickelt sind." sie stand auf, fuhr mit dem Auspacken fort und verstaute ihre Kleider im dafür vorgesehenen Schrank.
"Und was hat das mit uns zu tun?" wollte Micha wissen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte wieder an die Decke.
"Das weiß man nie so genau bei Agenten." Mam sperrte den Schrank zu und schob den Koffer in eine Nische neben dem Kleiderschrank.
"Hmm... Und wann sind diese Geschäfte abgewickelt?"
Mam arrangierte ihre Waschutensilien und Cremetöpfchen im Badezimmer auf einer Ablage und rief:
"Das kann morgen sein - oder auch in 3 Wochen. Das ist noch nicht sicher."
"Vielleicht war die alte Frau in Wirklichkeit ein verkleideter Spion?" grübelte Micha laut.
"Schatz, was hast du mir grade versprochen?" rief Mam und steckte ihren Kopf durch den Türrahmen.
"Tschuldige. - Aber hatte sie auch was damit zu tun?" meinte Micha, sprang auf und setzte sich auf die Bettkante. Mam klapperte mit irgendetwas im Bad
"Ich weiß es doch nicht.“ rief sie, „ich weiß nur, dass wir ein bisschen vorsichtig sein sollten, in der nächsten Zeit. Aber deshalb lassen wir uns die Ferien nicht verderben. Und jetzt kein Wort mehr darüber!"
"Hast du übrigens das nette Eiscafé an der Ecke bemerkt?" fragte sie, als sie aus dem Badezimmer kam.
"Das mit den Sonnenschirmen?" Micha schaute aus dem Fenster und beobachtete das Meer, das die Sonnenstrahlen wie ein Glitzerteppich reflektierte.
"Genau das. Ich hätte Lust auf eine große Portion Früchteeis mit Sahne. Kommst du mit?"
Das gemeinsame Abendessen aller Gäste im Hause Krüger, auf das Micha am liebsten verzichtet hätte, wenn es nicht im ganzen Hotel so lecker nach Hähnchen geduftet hätte, verlief dann doch noch spannender, als er anfangs erwartet hatte. Und zwar war seine Mutter mit einer Familie am Nebentisch ins Gespräch gekommen, zu der auch ein Mädchen in Michas Alter gehörte; vielleicht war sie auch schon ein wenig älter. Jedefalls hatte sie langes, zu einem Pferdeschwanz gebundenes, kastanienbraunes Haar und war genauso groß wie Micha. Sie schwieg die ganze Zeit und Micha schien es, als hätte sie ein schlechtes Gewissen: immer wenn er zu ihr hinüber sah, schaute sie weg. Sie hieß Marion, erfuhr Micha, und am Ende schenkte sie ihm sogar ein ganz kleines Lächeln. Dabei bemerkte er ihre wunderschönen, großen, braunen Rehaugen, in die sich ein Junge in Michas Alter sofort verlor, wenn er hineinblickte.
Beim Abendspaziergang auf der Kurpromenade, wo sich - nach Mams Erkenntnis - alles traf, was sich noch irgendwie auf den Beinen halten konnte, mit Ausnahme der Ortsansässigen - hielt Micha ebenso unauffällig wie vergeblich Ausschau nach Marion und ihrer Familie.
"Ich glaube", sagte Michas Mutter unvermittelt, "morgen am Strand werden wir bestimmt die netten Leute vom Nachbartisch treffen."
Das war wieder so ein Moment, wo Micha sich fragte, ob seine Mam vielleicht Gedankenlesen konnte.
Als die ferne Kirchturmuhr Mitternacht schlug, lag Micha immer noch wach. Die Gardine vor dem offenen Fenster blähte sich im sanften Nachtwind. Micha betrachtete den schwachen Lichtschein einer einsamen Laterne drüben auf der Kurpromenade, der den Schatten der Gardine als ein wogendes Meer an die Zimmerdecke warf, untermalt von dem monotonen Rauschen der Brandung.
"Hätte ich nicht vor Sandra wie ein Idiot geprahlt", grübelte Micha, "ich säße jetzt nicht in diesem blöden Kaff und müßte mich vor verkleideten Agenten in acht nehmen. Keiner hätte erfahren, dass mein Vater eine Familie hat, die man vor Kidnappern und Erpressern verstecken muss. Schöner Mist!"
Andererseits, so überlegte Micha weiter, war es vollkommen in Ordnung, wenn sein Vater fest mit der Hilfe und Kooperation seines Sohnes rechnen konnte. Auch wenn diese im Augenblick nur darin bestand, wegzulaufen.
Beim Frühstück war Micha ein wenig enttäuscht, Marions Familie nicht zu sehen. Aber er ließ sich nichts anmerken.
"Ich glaube", sagte Mam, "wir sind die einzigen Langschläfer hier. Die anderen sind bestimmt schon alle am Strand."
Der Wind, der vom Meer wehte, war angenehm frisch und brachte einen aufregenden Duft von Ferne und Abenteuer.. Er hatte Schuhe und Strümpfe in der Hand und platschte durch das flache Wasser.
"Ist wirklich nicht kalt!" rief er zu seiner Mutter hinüber, die, ebenfalls barfuß, durch den Sand stapfte, "komm, versuch's doch mal."
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