"Ich weiß, Flachdenker." unterbrach ihn Micha.
"...wie Mystik, Spiritismus usw., war nicht wissenschaftlich sondern okkult.“ fuhr der Großvater fort. Oder denk an die Religionen. Menschen, welche die Rituale und Bräuche ihres jeweiligen Glaubens ausüben, bewegen sich ebenfalls in der Symboldimension des Geistes."
"Was ist mit der Magie?" fragte Micha.
"Gute Frage", meinte der Großvater. "Auch die Magier bewegen sich in diesem Grenzbereich, genau wie die Priester. - Manchmal wünschte ich, die Alchemie und all die anderen okkulten Disziplinen unserer Altvorderen kämen uns Heutigen wieder mehr ins Bewusstsein zurück. Dann hätten wir bestimmt ein paar Probleme weniger."
"Wie meinst du das?" fragte Micha interessiert.
"Ich meine, wir haben uns mittlerweile soweit von unseren Wurzeln entfernt, dass wir ein bisschen das Wissen darüber aus den Augen verloren haben, wer wir sind und weshalb wir hier sind." Großvater strich sich mit Daumen und Zeigefinger durch seinen Bart
"Und wer sind wir?" wollte Micha wissen.
"Das kommt ganz auf die Perspektive an. Einerseits sind wir 'die Krone der Schöpfung', andererseits ein Heer von Schädlingen mittlerweile ohne natürliche Feinde - außer uns selbst. Wir ruinieren das wundervolle, in Jahrmillionen gewachsene Gleichgewicht der Kräfte auf unserem Planeten, indem wir ihn kahl schlagen, sein Wasser und seine Luft verderben, mit dem Feuer spielen und uns obendrein auch noch unkontrolliert vermehren. Und wenn wir die Ursachen für dieses Desaster betrachten, was glaubst du, was finden wir?" Großvater schaute Micha fragend an.
"Ich weiß nicht. Den Mensch selber?"
"Genau. Seine Dumpfheit, Gier, Maßlosigkeit und Machtgelüste. Alle spirituellen Lehrer fordern uns auf, den inneren Schweinehund endlich zu besiegen - eine sehr schwierige Aufgabe zugestandenermaßen, der wir uns immer wieder dadurch entziehen, dass wir nur bei den Anderen diesen Schweinehund sehen.
Aber zurück zu deiner Frage: wir sind Götter. Jeder Einzelne von uns ist als unsterbliche Seele erschaffen. Die Ewigkeit erhielten wir zum Geschenk - für eine kleine Gegenleistung."
"Welche Gegenleistung?" Micha kratzte sich fragend am Kopf.
"Zu lernen." entgegnete Großvater.
"Was denn zu lernen?" wollte Micha weiter wissen.
"Zu lernen, uns selbst zu erkennen. Doch damit lassen wir uns Zeit."
"Vielleicht weil wir soviel Zeit haben?" gab Micha zurück.
Der Großvater nickte lächelnd.
"Nur aus menschlicher Sicht. Aber die täuscht. - In der Hindu-Philosophie wird unsere Welt seit jeher als 'Maya', als Illusion oder Täuschung angesehen - das Abendland kommt erst allmählich dahinter. Der Philosoph Gottlieb Fichte, der im 18. Jahrhundert lebte, war beispielsweise der Überzeugung, dass die Wirklichkeit unserer Welt einfach ein Produkt unseres Geistes sei, was uns demzufolge die Gewissheit gäbe, dass wir frei seien - nicht bestimmt durch unsere Umwelt, sondern unsere Umwelt bestimmend. Aber die wenigsten Menschen, die so etwas hören, ziehen aus derlei Erkenntnissen irgendeine Schlussfolgerung für ihre eigene Existenz. Wer ist zu dem Gedankensprung fähig, sich als Geist in einer geistigen Welt zu erkennen?
Häuser, Autos, Menschen, Tiere, Pflanzen und Steine - nichts davon ist realer als die Wirklichkeit in unseren Träumen; wir sind Geister in einer illusionären Welt." erklärte Großvater und blickte streng ins Leere.
"Aber warum fühlt sich dieser Tisch hier so hart an, wenn er doch nur aus Geist ist?" fragte Miche und klopfte mit der Faust auf die Tischplatte.
"Weil der, der dagegen klopft, auch ‘nur aus Geist’ ist. - Leider wird dieses Wissen von der Mehrzahl unserer abendländischen Denker in ihrem eifrigen Bemühen um 'Wissenschaftlichkeit' nach wie vor übersehen. Dennoch konnte es in der okkulten Philosophie bis auf den heutigen Tag halbwegs bewahrt werden.
Du siehst, unsere Vorstellung von ‘Wissenschaftlichkeit’ ist vollkommen einseitig. Denn erst horizontales, wissenschaftliches Forschen und vertikales, metaphysisches Verstehen zusammen ergeben ein Ganzes."
"Horizontal und vertikal zusammen ergeben ein Kreuz." sagte Micha und bildete mit den Zeigefingern ein Kreuz vor seinem Gesicht um seine Aussage zu bekräftigen.
"Sehr gut. Aber das Kreuz ist auch das Symbol für die Materie, an die wir gefesselt sind.
In der Astrologie ist das Symbol für den Planeten Erde ein Kreis mit einem Kreuz darin. Der Kreis symbolisiert den Geist, das Kreuz die materielle Welt. Und beides zusammen - kannst du das interpretieren?" Großvater schaute Micha einer gehobenen Augenbraue fragend an.
"Ähh... - der Geist schließt die Materie ein?" antwortete Micha zaghaft.
"Donnerwetter, alle Achtung. Das Zeichen für den Planeten Venus ist aber ein Kreis über einem Kreuz. Das symbolisiert die Forderung an die Menschheit, in der Liebe den Geist über den Körper zu stellen. Aber wir tun genau das Gegenteil. Und deshalb sind wir für unseren Planeten Erde zur Plage geworden." Sagte Großvater mit einem leicht abfälligen Unterton.
"Also wäre es ganz gut, etwas über die Symbole und das Okkulte zu erfahren." wollte Micha wissen.
"Sicher. Aber das ist kein Wissen, mit dem du bei deinen Klassenkameraden oder Lehrern Eindruck machen kannst. Denn die meisten Leute kichern darüber - oder schütteln bloß den Kopf, nur wenige hören zu und noch weniger können dich verstehen. Aber selbst ohne diese Wenigen würde sich die Mühe für dich lohnen." gab Grovater zu bedenken und strich sich mit Daumen und Zeigefinger durch seinen weißen Bart.
"Vielleicht könnten wir die Zeit, solange ich hier bin, ein bisschen darüber reden?" fragte Micha mit erwatungsvoller Mine.
"Wenn du gern möchtest... wir sind ohnehin schon mitten drin. Und da wir gerade bei der Venus sind... Kannst du dir denken, welche Disziplin des Geheimwissens aus der alten Zeit bis in die Gegenwart hinein - neben der Magie - ihre Gültigkeit behalten hat?"
"Sag es mir - die Astrologie?" antwortete Micha.
"Genau. Aus ihr entwickelte sich im Laufe der Zeit die Astronomie, wie wir sie heute kennen. Dabei verloren aber die Astronomen jenes uralte Wissen der Menschheit um die Tierkreisgeheimnisse und Planeten immer mehr aus den Augen. Der letzte große Astronom, der noch von den wahren Ursprüngen wusste, war Johannes Kepler, der vor 350 Jahren starb."
"Was waren denn die wahren Ursprünge?" wollte Micha erneut wissen.
"Die alten Sumerer und Babylonier erkannten bereits vor über 5.000 Jahren einen ebenso geheimnisvollen wie unübersehbare Parallele zwischen dem irdischen Rhythmus von Wachsen und Sterben, von Ebbe und Flut - und dem Lauf der Gestirne." Großvater konnte einen mit derlei Aussagen richtig bannen und man musste einfach zuhören, denn seine tiefe warme Stimme klang immer sehr überzeugend.
"Sie entdeckten den symbolischen Zusammenhang, oder?", meinte Micha.
"Genau. Deshalb versuchten sie im Verlauf der Jahrhunderte, die mathematischen Gesetzmäßigkeiten dieses Kreisens der Himmelskörper immer besser und besser zu verstehen, bestimmte Regeln daraus abzuleiten und an die Nachwelt weiterzugeben - bis sich das Wissen dann schließlich irgendwann verselbstständigte: die Fähigkeit, in Symbolen zu denken, verkümmerte zunehmend - ebenso wie unsere Muskeln verkümmern, wenn wir sie nicht ständig gebrauchen. Als sich schließlich das Newtonsche Weltbild von der großen Himmelsmaschine etablierte, hatte sich unser Denken längst in die rationale Hirnhälfte zurückgezogen."
"Wir verstanden nichts mehr, oder?" fragte Micha.
"Richtig. Und deshalb glaubten wir, alles zu verstehen.“ fuhr der Großvater fort. „Ist das nicht verrückt? Übrigens gibt es noch eine weitere Lehre aus der Antike, noch okkulter als die Astrologie, die sich in neuem Gewand bis auf den heutigen Tag erhalten hat, wenn auch die ursprüngliche Lehre fast verloren gegangen ist. Weißt du, was ich meine?" Großvater hob seine linke Augenbraue, wie er es oft machte wenn er solche Fragen in den Raum warf.
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