Konnte es sein, dass hier alles beginnen sollte? Das, weshalb er eine Vision hatte, damals, kurz nach Verlassen von Shadowisland. Da er die anderen nicht beunruhigen wollte, behielt er seine Gedanken für sich. Es konnte immerhin auch sein, dass dies alles nichts weiter als nur ein bloßer Zufall war.
Während Madame sich noch weiter in dem überfüllten Laden umsah, beobachtete Monsieur André Destin Kim. Er ließ sie nicht aus den Augen. Seine wieselflinken Augen folgten jeder ihrer Bewegungen. Wieder und wieder besah er sie. Und je länger er sie ansah, desto sicherer wurde er.
Der Tarot, sie war es, die ihn zu bekommen hatte. Für sie alleine war er bestimmt.
André Destin atmete tief durch. Er pfiff leise durch die Zähne. Wieder sah er zu Kim, die sich soeben mit einem afrikanischen Teegeschirr befasste. Er musste einen Weg finden, ihr den Tarot zuzuspielen. Sie musste auf ihn aufmerksam werden. Unbedingt. Und von ganz alleine.
Von den anderen unbemerkt, ging er in eines der Hinterzimmer. Er kramte in einer Schublade des alten Sekretärs ganz hinten in der Ecke. Aus einer kleinen Lade zog er einen Schlüssel heraus, steckte ihn in ein unscheinbares Schloss. Es klickte, die kleine Geheimtür des Sekretärs, der nichts anderes als ein nicht augenscheinlich erkennbarer Tresor war, sprang auf. Vor ihm lagen große Tarotkarten. Fast unbenutzt aussehende, sehr alte Tarotkarten. Destin nahm sie an sich. Er ging zurück in den Laden, legte die Karten so auf die Ladentheke, dass Kim unwillkürlich auf sie aufmerksam werden musste.
»Wir sollten so langsam wieder gehen. Ich möchte mir dort drüben an dem einen Stand nämlich gerne noch eine Franzosenkappe kaufen«, unterbrach Evelyn Zink und Kim beim Stöbern.
Kim und Madame reagierten auch sofort. »Ja, sicher. Wir können jederzeit noch einmal hierher kommen. An einem anderen Tag. Immerhin ist dies heute unser erster Urlaubstag, hier in Paris«, lachte Madame, die bereits jetzt schon einige Dinge ins Auge gefasst hatte, die sie sich gerne noch vor ihrer Heimreise kaufen wollte.
Sie verabschiedeten sich von dem Ladenbesitzer Destin. Bereits im Gehen drehte sich Kim noch einmal um. Wie von Magie angezogen, fiel ihr Blick auf den Tarot, der auf der Theke lag. Langsam ging sie noch einmal zurück.
»Kim, wir wollen gehen. Komm jetzt. Du läufst in die falsche Richtung«, versuchte Quentin, sie zurückzuhalten. Doch sie hörte nicht auf ihn. Zielstrebig ging sie zurück zur Theke. Ihre Hand wollte schon nach den Karten greifen, als sie bemerkte, wie unschicklich das war. Mit einem becircenden Lächeln sah sie Monsieur Destin an. »Dieses Kartendeck, darf ich es mir einmal genauer ansehen?«
»Aber bitte, sicher doch Mademoiselle. Jederzeit. Immerzu. Hier, nehmen Sie es. Es wartet nur darauf, von Ihnen genommen zu werden.« Er reichte ihr die Tarotkarten.
Kim nahm sie vorsichtig an sich. Sie hielt sie in ihren Händen, so vorsichtig und behutsam, als wären sie zerbrechlich. Eine Karte nach der anderen sah sie sich an. Als sie auch noch das Bild der letzten Karte angesehen hatte, legte sie den Tarot wieder zurück auf die Theke. Nachdenklich sah sie Monsieur Destin an. »Diese Karten, sie sind sehr ausdrucksstark. Wer sie wohl gemalt haben mag?«
»Wenn Sie das interessiert, Mademoiselle, kann ich gerne versuchen, es für Sie herauszufinden. Geben Sie mir zwei Tage Zeit, bis dahin werde ich mehr wissen«, bot er ihr an.
Dabei verheimlichte er ihr, dass er ihr bereits jetzt schon mehr über den Tarot hätte erzählen können. Doch das wollte er nicht. Nicht jetzt. Nicht hier. Und schon gar nicht heute. Sie würde mehr darüber erfahren, aber erst dann, wenn er den Zeitpunkt für geeignet halten, oder dieser von ganz alleine gekommen sein würde, und keinen Moment zuvor.
»Das würden Sie tun? Sehr freundlich von Ihnen. Dann komme ich in zwei Tagen wieder.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Und der Tarot? Möchten Sie ihn nicht haben?«, hielt André Destin sie vom Gehen ab.
Mit sehnsuchtsvollem Blick sah sie zu dem Tarot. »Oh doch, sehr gerne sogar. Doch die Karten, sie sind sehr alt.« Sie schüttelte ihren roten Lockenkopf. »Nein danke, Monsieur Destin, ich kann sie nicht bezahlen. Leider.«
»Bezahlen, Mademoiselle? Wer redet denn vom Bezahlen? Hier, Mademoiselle, hier nehmen Sie den Tarot. Ich schenke ihn Ihnen.« Er hielt ihr das Kartendeck entgegen.
Verwundert sah Kim Monsieur Destin an. »Aber … Ich weiß nicht«, zögerte sie. »Das kann ich doch nicht annehmen«, antwortete sie verlegen.
»Aber sicher doch, Mademoiselle, das können Sie. Wenn Sie mich fragen, dann sind die Karten geradezu für Sie gemacht. Haben Sie es nicht gespürt, als Sie sie in Ihrer Hand gehalten haben?«
»Wie?« Sie hörte in sich und nickte dabei. »Doch, jetzt, wo Sie es sagen ...« Kim hielt inne. Ihr war das eigenartige Kribbeln in ihren Fingern nicht entgangen, als sie die Karten des Tarots in ihren Händen gehalten hatte. Doch sie hatte nicht weiter darauf geachtet, noch sich etwas dabei gedacht. Doch jetzt, nachdem Destin sie darauf aufmerksam gemacht hatte …
Sie spürte es tatsächlich. Den Tarot und sie verband etwas. Wie ein unsichtbares Band, lag etwas zwischen ihnen. Auch wenn Kim noch nicht zu sagen gewusst hätte, was genau der Verbindungspunkt war.
Ein Lächeln legte sich in ihr mit Sommersprossen bedecktes Gesicht. Bisher hatte sie mit Wahrsagekarten recht wenig im Sinn gehabt. Doch diese hier, sie schienen etwas Besonderes, Einzigartiges zu sein.
Dankend nahm sie die Tarotkarten an, und verließ mit den anderen den Laden Monsieur Destins.
Erneut erklangen die Glöckchen über André Destins Eingangstür.
Aufgeregte Finger schoben den Schlüssel ins Schloss und verschlossen die Tür. Danach wurde das Schild Geöffnet auf Bin gleich zurück umgedreht.
Von hinten erklang Destins Stimme: »Ich komme gleich. Sehen Sie sich ruhig schon um.«
»Nicht nötig, ich komme zu dir, Grand-père!«, antwortete eine männliche Stimme. Pierre le Rousse ging schnellen Schrittes in eins der Hinterzimmer, aus dem er seinen Großvater hatte rufen hören.
»Pierre? Gut, dass du schon da bist. Wir müssen reden!«
Pierre le Rousse zog den Vorhang beiseite und grinste breit. »Grand-père, Großpapa, was glaubst du, weshalb ich da bin?«
»Komm rein, ich mache mir gerade Kaffee. Willst du auch einen? Ja? Gut. Einen Croissant dazu? Nein? Ihr jungen Leute, dass ihr immer Angst habt, zu dick zu werden. Dabei, sieh dich doch an, an dir ist gar nichts dran. Du kommst nach deiner Mutter, die konnte als junges Mädchen auch immer essen, was sie wollte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen«, lachte der alte Mann und bedachte Pierre mit liebevollem Blick. Pierre, er war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Und sie wiederum war das Ebenbild ihrer Mutter, André Destins verstorbener Frau Amelie.
Die beiden Männer setzten sich an einen alten Tisch. Viele Einkerbungen, im Laufe der vergangenen Jahre hinterlassen worden, hatten ihn gezeichnet. Ließen das Holz seiner Tischfläche fast lebendig erscheinen.
André Destin zog seinen Tabakbeutel zu sich heran. Bevor er seine Pfeife entzündete, forderte er seinen Enkel auf, die Tür zu schließen. »Ist nicht gut, wenn die Dinge im Laden nach Rauch riechen.«
»Wie oft, Großvater, willst du mir das noch sagen?«
»So lange, bis du es lernst, die Tür von alleine hinter dir zu schließen. Hast du auch daran gedacht, das Türschild umzudrehen?«
»Sicher doch«, grinste Pierre. Mit der Hand fuhr er sich durch seine schwarzen Haare. Seine blauen Augen musterten amüsiert seinen Großvater.
»Hör auf einen alten Mann auszulachen«, mühte Destin sich, Ernst zu sein. Doch dann änderte sich sein Ausdruck. »Hast du getan, was ich dir aufgetragen hatte?«
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