Nachdem sie unterdessen gegen Valenco da Riga und auch gegen den wahnsinnigen Polo Plogida haben ankämpfen müssen, dabei von Zink und Gräulich, als auch von der zum Leben erwachten Romanfigur Zinks, Salvatore Amore, Unterstützung fanden, wissen sie zumindest, dass sie in ihrem Kampf nicht auf sich alleine gestellt sind.
Hilfreich sind ihnen dabei auch Gräulichs Visionen, und auch ihr Leichenwagen, Cemetery Car, der ihnen eine Weiche zum Jenseits ist, als auch die Wandlungsfähigkeiten der verstorbenen Evelyn.
Dennoch schützt sie dies nicht, auch Verluste betrauern zu müssen; dazu zählt auch Quentins langjähriger Freund Booker, der im Kampf gegen das Böse, den Tod gefunden hatte.
Doch trotz allem gibt Quentins Dämonenjäger-Team nicht auf, sondern ist bestrebt, dem Bösen die Stirn zu bieten. Um ihren Kampf zu gewinnen, hält sie auch nichts davor ab, stetig ins Grauen der Vergangenheit zu reisen und der Wahrheit auf den Grund zu gehen.
Das Le Petite war eine kleine Pension, die hinter einem mittelalterlichen Torbogen in der Altstadt Paris’ lag.
Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Pension ein monumentales Bauwerk, ein Hotel, welches Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts von der Familie Du Noir erbaut worden war.
Nachdem es im Zweiten Weltkrieg teilweise zerbombt wurde, so dass es nur noch bis zur dritten Etage erhalten geblieben war, wurde es nach Kriegsende wiederaufgebaut, wenn auch nicht mehr ganz so hochstöckig, so dass die Stockwerke über unterschiedliche Höhen verfügten.
Im 20. Jahrhundert, Ende der 60er Jahre, verkaufte der letzte Erbe der Du Noirs, Alain du Noir, das Hotel an die Le Blancs, in deren Besitz es auch heute noch ist.
Durchschritt der Besucher den Torbogen zum Le Petite, drängte sich ihm der Eindruck auf, die Gegenwart zu verlassen, zurückgeführt zu werden in Raum und Zeit, und bereits mit dem nächsten Schritt die Vergangenheit zu beschreiten.
Weder die Zerstörungswucht der Bomben im Zweiten Weltkrieg, noch der Wiederaufbau des Hotels nach Kriegsende, konnten dem Le Petite seinen Charme nehmen.
Auch, wenn es heute nicht mehr als pompöses Hotel hervorragte, so hatte die kleine Pension, zu der es geworden war, nichts von seiner einstigen Ausstrahlungskraft eingebüßt. Bunt bepflanzte Blumenkübel, die verteilt in einem breitflächigen, kopfsteinbepflasterten Vorhof dekorativ angeordnet waren, verliehen dem Ganzen noch zusätzlichen Charme.
Doch die Pension war nicht nur in seinem Äußeren in der Zeit stehengeblieben. Auch innerhalb des Le Petites hatte die Familie Le Blanc, mit geringfügigen Veränderungen der Neuzeit, alles daran gesetzt, weitläufig das meiste so zu belassen, wie es einst erbaut worden war.
So war es nicht weiter verwunderlich, dass der technische Komfort sehr zu wünschen übrig ließ. Denn auch in diesem Bereich war sehr darauf geachtet worden, das Hotel im Ursprünglichen zu belassen. Daran hatte auch der Verkauf an die Le Blancs, noch der Umbau in eine Pension, etwas geändert.
Doch wer einmal im Le Petite zu Gast war, wusste, dass es mit ein Teil dessen war, was der Pension seine Ausstrahlungskraft und seinen ganz besonderen Charme verlieh.
Zwei schwarze schmiedeeiserne, an Gaslichtlaternen erinnernde Straßenleuchten säumten den Eingang des Le Petite.
An warmen Tagen hatten die Pensionsgäste die Möglichkeit, auf einer efeuumrankten Terrasse, umgeben von hohen alten Birken, zu frühstücken.
Je nachdem aus welcher Richtung der Wind kam, konnten die Gäste den leicht herben Geruch riechen, der von der Seine herüberzog.
Nicht weit vom Le Petite ließen die Bronzeglocken der Cathédrale de St. Claire, im stündlichen Rhythmus, ihren dumpfen Klang über Paris ertönen.
Vor weniger als zwei Stunden hatte Quentin Cemetery Car auf dem Pensionsparkplatz, unter weißen Birken geparkt.
Bepackt mit Reisegepäck für zwei Wochen, betraten Quentin, Kim, Madame Zink, Professor Gräulich und Nickel die Pension. Ihnen folgten Salvatore Amore, der, aus Tarnungsgründen, ebenfalls eine Reisetasche bei sich trug.
Auch Evelyn hatte ihre Phantasie ausgelebt. Um nicht als Geist aufzufallen, hatte sie sich in eine Frau, Anfang sechzig, mit leicht blondiertem Haar und salopper Kleidung verwandelt. Auch sie trug einen Koffer bei sich.
Nachdem sie von Madame Le Blanc begrüßt worden waren, sich im Gästebuch eingetragen hatten, führte sie Madame auf ihre Zimmer.
Quentin umarmte Kim. Er bedeckte ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen.
»Quentin, doch nicht jetzt!«, versuchte sich Kim, von ihm freizumachen.
»Aber warum denn nicht jetzt? Hast du vergessen, dass wir in der Stadt der Liebe sind?«
»Nein, Liebling, das habe ich nicht vergessen. Dennoch heißt das doch nicht, dass wir uns gleich nach Ankunft ins Bett werfen und über uns herfallen müssen.« Um ihren Worten noch einen zusätzlichen Touch des Verstehens zu verleihen, sagte sie, mit gespieltem Akzent: »Nicht wahr, mon Cher?«
»Dem kann ich nur zustimmen«, vernahmen sie eine allzu bekannte Stimme hinter sich.
Entrüstet wirbelte Quentin herum. »Tante, ich darf doch sehr bitten! Schon einmal etwas von Privatsphäre gehört? Oder gar von der altmodischen Erfindung des Anklopfens?« Gereizt blickte er zu ihr hin. »Glaubst du, nur weil du ein Geist bist, dass du zu jeder Tages- und Nachtzeit ungefragt bei uns auftauchen kannst?«
»Pst! Du weißt doch, dass niemand wissen darf, dass ich ein Geist bin. Wozu würde meine Verkleidung von Nutzen sein, wenn du mein tatsächliches Sein über Paris hinausschreist?«
»Über Paris hinausschreien? Nun übertreib aber mal nicht, Tante Evelyn. Und außerdem, du brauchst gar nicht versuchen, vom eigentlichen Thema abzulenken. Wenn ich also bitten darf.« Er machte ihr mit der Hand Zeichen, endlich wieder zu gehen. »Es reicht, wenn wir später alle beim Abendbrot wieder zusammen sein werden.«
»Liebling, sei doch nicht dermaßen ungehalten«, versuchte Kim, ihren Verlobten zu beruhigen. Zu Tante Evelyn gewandt, sagte sie: »Sei nicht böse, Tantchen, aber geben wir doch einfach Quentins Wunsch nach und treffen uns später unten zum Abendessen.« Sie zwinkerte Evelyn verschwörerisch zu.
Die wiederum nickte, leicht schmollend. Danach verließ sie das Zimmer auf dem gleichen Weg, wie sie es auch betreten hatte. Sie entmaterialisierte sich und ging, wie es für einen Geist üblich war, durch die Wände. Zurück blieb der intensive Geruch nach Lavendel.
»Ob sie sich jemals daran gewöhnen wird, dass es einfach zum guten Ton gehört, anzuklopfen, statt einfach unaufgefordert, mitten im Zimmer zu stehen?«
»Quentin, du weißt doch, wie deine Tante ist. Glaubst du tatsächlich, dass sie das noch lernen wird?«, schmunzelte Kim.
Mit gespielter Zerknirschung antwortete Quentin: »Eben nicht! Das ist ja das Schlimme daran. Nie bin ich mir sicher, ob sie nicht plötzlich einfach hinter mir steht. Schatz, ich möchte aber auch Zeiten haben, die nur wir beide miteinander verbringen. Dinge tun, bei denen wir keinen Zuschauer gebrauchen können. Intimleben, Kim, nenne ich so etwas, Intimleben.«
»Dabei wird sie uns auch ganz bestimmt nicht stören. Immerhin, sie war auch einmal jung. Sie weiß, wie das ist, wenn man alleine sein will, um …, na ja, um Amour zu machen.«
»Hoffentlich hast du Recht, meine Süße. Immerhin ist es mit ein Ziel unseres Urlaubs, auch zu entspannen, und dazu gehört auch unsere intime Zweisamkeit.« Er zog sie erneut in seine Arme, und machte da weiter, wobei sie durch Evelyns Erscheinen unterbrochen worden waren.
Dieses Mal wehrte sich Kim nicht dagegen.
In einem anderen Zimmer hatte sich Madame Zink ihren Laptop aufgestellt und wollte gerade mit dem Schreiben beginnen, als auch hier Evelyn unangekündigt, und ohne zu klopfen, das Zimmer betrat.
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