ANDERSWO
Ein leiser Wind wehte durch die verlassenen Gassen der Stadt des Berges, Shin'Anrar, gebaut zum Trotz gegen den Dämon des Chaos Anrar. Eine uneinnehmbare Festung hieß es in vieler Münder, eine der letzten Zufluchtsstätten der Isk und kaum einer kannte diesen Ort, denn die wenige, die doch von ihm wussten hüteten ihr Geheimnis gut. Doch nun war Unglaubliches geschehen. Die Stadt war verlassen. Vollkommen leer waren die Häuser, die Straßen, alles. Trostlos stand die Stadt in den Bergen und blickte über das weite Land, doch es herrschte Totenstille in ihr, auch wenn keine Toten zu sehen gewesen waren.
Nur ein einziges, winzig und verloren wirkendes Lebewesen bewegte sich so lautlos wie möglich über die steinernen Wege. Obwohl die junge Frau ihre Füße leise aufsetzte und nur leichtes Schuhwerk trug, hallten ihre Schritte hundertfach an den Wänden der leerstehenden Häuser wider. Als wäre es ein verzweifelter Versuch der Stadt doch noch ein paar Geräusche erklingen zu lassen. So wie es eigentlich sein sollte, denn auch wenn die Isk ein verfolgtes Volk waren, konnten sie trotzdem auch ein sehr lautes sein. Es war unheimlich und unvorstellbar in solch einer Stadt absolut gar nichts zu hören, wenn man gerade stehen blieb.
Die Frau blieb stehen und lauschte angestrengt, vernahm jedoch nur die Laute ihres eigenen Atems. Der Wind spielte vorsichtig mit ihrem Mantel, als wage er es nicht, sich allzu deutlich bemerkbar zu machen. Ihre Lippen zitterten leicht, als sie versuchte einige Tränen zu unterdrücken. Irgendetwas Schreckliches war geschehen und sie waren zu spät gekommen, um helfen zu können oder wenigstens herauszufinden, was es war, das Shin'Anrar leergefegt hatte. So durfte es nicht sein. Nein, so durfte es nicht sein und so hätte es nie sein dürfen.
Sie drehte sich herum und sah, wie ein Mann die Straße heraufkam. Er war nicht sehr groß und mehr dürr als schlank. Er trug eine weite, schwarze Hose und ebensolch ein Hemd, das für die Kälte, die hier oben herrschte viel zu dünn wirkte. Ein langer Umhang fiel lose über die Schultern und an seinen Füßen trug er schwere Stiefel. Bewaffnet war er mit einem langen Schwert, das an seiner Seite hing, denn sollten sie auf Menschen stoßen, würde es mit Sicherheit kein friedliches Zusammenkommen werden.
Sorgfältig betrachtete er die Straßenseiten auf der Suche nach jedem kleinsten Hinweis, der ihnen nützlich sein konnte. Leider gab es nicht noch so einen kleinen. Wegen ihr war auch er hier, der Mann den sie liebte. Er hatte sich von ihr überreden lassen, wenigstens einmal vorbeizusehen, denn sie hatte es gefühlt, dass etwas nicht stimmen konnte. Dieses Vorbeisehen hatte sie einige hundert Meilen Umweg gekostet und dauerte nun schon drei Tage und zwei Nächte. Nächte, die sie vor den Toren verbracht hatten, da sie sich nicht in der Geisterstadt aufhalten wollten. Tage, die nur sinnlos verstrichen waren.
"Nichts.", flüsterte sie, als er sie erreicht hatte. "Einfach nichts." Auch ihre Stimme zitterte bereits, doch ihr Herz schmerzte zu sehr, als dass sie dies noch aufhalten konnte.
"Und wir werden auch nichts finden." Es war das erste Mal seit sie hier waren, dass er dies sagte. Er hätte es auch schon am Tag zuvor sagen können oder am Tag davor. Oder schon in der ersten Stunde, die sie hier verbracht hatten. "Sie sind nicht hier, sie sind auch nicht tot."
"Sie haben die Stadt auch nicht verlassen.", fügte sie hinzu.
"Rawnes.", drängte er. "Ich weiß nicht, was hier geschehen ist und wo die ganzen Isk geblieben sind. Ich weiß nur, dass wir hier keine Antworten finden werden und dass wir uns bald auf den Weg machen müssen, da wir in ziemlicher Ferne sehr bald erwartet werden. Wir können unsere Freunde nicht besorgt werden lassen, da sie nicht wissen, wo wir bleiben."
Sie konnte schlecht etwas dagegen sagen, denn sie war ihm schon dankbar, dass er dies nicht schon eher gewollt hatte. Sie konnte ihn nicht noch länger hier halten und sie konnte sich auch nicht länger einreden, dass sie noch etwas finden würden.
"Wir müssen auf dem Rückweg in Midnight Town halten. Vielleicht auch noch einmal in Sunspring."
Er wollte heftig etwas erwidern, dass konnte sie schnell genug erkennen. "Bitte Rugar.", setzte sie noch dahinter. "Du weißt, wie wichtig es für mich ist."
"Meinetwegen auch das.", seufzte er.
Sie trat auf ihn zu und nahm seine Hand. "Ich muss es unbedingt wissen. Ich muss ganz unbedingt wissen, was hier geschehen ist. Du weißt, wie wichtig dies sein könnte. Für uns alle."
"Aber wir werden hier keine Antworten bekommen und wenn wir noch in Midnight Town halten wollen, sollten wir so früh wie möglich aufbrechen und uns beeilen.", bekräftigte er noch einmal seine früheren Worte.
"Auch wenn ich noch immer daran glaube, dass es hier irgendwo einen Hinweis geben muss, nichts geschieht ohne Hinweise, weiß ich auch, wie Recht du hast." Sie sah sich noch einmal enttäuscht um, in der Hoffnung im letzten Moment doch noch etwas zu erspähen. In ihrem Inneren spürte sie allerdings auch eine gewisse Erleichterung bei dem Wissen, die Stadt bald hinter sich lassen zu können. "Lass uns trotzdem einen Weg zurück gehen, den wir noch nicht genommen haben."
Wieder nickte er nur zustimmend, erleichtert überhaupt zurückkehren zu können. Auch er wollte diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen. Er drängte nicht nach dem Wissen, was geschehen war. Nicht, dass ihm die ganze Sache völlig gleichgültig war. Von heute auf morgen eine ganze Stadt verlassen vorzufinden geschah nicht alle Tage und war mehr als nur ein wenig unheimlich. Vor allem, wenn man darüber nachdachte, welch Schicksal die Hunderte, wenn nicht Tausende von Isk ereilt haben mochte. Wohin sie nun verschwunden sind, oder ob sie überhaupt noch irgendwo in dieser Welt zu finden waren. Aber er hielt es für sinnlos an einem Ort nach Spuren zu suchen, an dem sich offensichtlich keine befanden. Es gab keine Kampfspuren, keine gewalttätigen Belagerungsversuche, kein Blut, keine Lebenden, keine Anzeichen von hastigem Aufbruch. Alles war so, wie es sein sollte, nur, dass niemand mehr hier wohnte. Als hätte einfach jemand mit den Fingern geschnippt und sie wären alle weg gewesen.
So gingen sie durch einige schmale Gassen, bis sie auf eine breite Hauptstraße gelangten, die sich in Schlangenlinien durch die Stadt wob und ihnen einen großen Umweg brachte, doch Rugar sagte dazu nichts. Sie würden diesen Weg außerhalb der Stadtmauer wieder zurück zu den Pferden gehen können, nachdem sie ein breites, stabiles Tor öffnen würden. Von innen war dies kein Problem. Von außen brachte auch keine Anwendung von Gewalt einen Einlass. Die Mauern waren von solch dickem Stein, wie ein Haus breit war und sie waren um einiges höher, als die flachen Hütten an denen sie vorbei gingen.
Nur ein Punkt in Shin'Anrar war noch höher und das war der kleine Tempel, den sie soeben passierten, gebaut zu Ehren des obersten Gottes Ulasta. Der Tempel bestand aus mehreren Säulen, die ein gewölbtes Dach stützten, das zum Himmel hin geöffnet war, um den aufsteigenden Rauch der dargebrachten Opfer hinauszulassen. In seiner Mitte stand ein unauffälliges Gebäude, das die große Opferschale beherbergte und in das nur die Priester zugelassen wurden. Die Priester, die in der Sprache der Isk als Meister bezeichnet wurden. Das gewöhnliche Volk musste bei solchen Zeremonien draußen warten.
Sie waren schon fast an diesem Tempel vorbei, als Rugar plötzlich inne hielt und einen Blick nach links warf, als hätte er ihn gerade eben erst bemerkt. "Warte.", hielt er Rawnes auf.
"Was ist los?", wollte diese wissen und wäre schon fast weitergegangen.
Er antwortete ihr nicht, sondern wich von ihrem Weg ab und ging auf die große Eingangstür zu. Auch nach mehrmaligen Fragen gab er immer noch keine Antwort. Er konzentrierte sich so sehr auf das unscheinbare Gebäude, als suche oder erwarte er irgendetwas, aber nichts geschah.
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