Er schien der Einzige zu sein, der in seiner unmittelbaren Nähe auf den Beinen stand. Verzweifelt versuchte er Túlak zu finden. Er rief seinen Namen, doch niemand antwortete ihm. Während er seine Suche fortsetzte, fiel er fast über eine vor ihm liegende Leiche. Es war ein Mensch und im ersten Moment war er sehr erschrocken, aber was hatte er erwartet? Die Menschen waren trotz ihrer grausamen Macht nicht unsterblich. Keine höheren Wesen als sie selbst.
Es verging eine sehr lange Zeit, doch Stalca kümmerte sich nicht darum, sondern lief weiter und weiter ohne Pause, ohne innezuhalten. Erst sehr spät fiel ihm auf, dass sich das Bild vor ihm kaum änderte. Es waren immer die gleichen Trümmer denen er auswich. Es waren immer dieselben Verletzten und Tote denen er begegnete, aber er war nicht mehr allein. Auch andere Isk hatten sich mühsam aufgerappelt und hinkten herum ohne zu wissen, was sie als nächstes tun sollten, oder was überhaupt geschehen war. Sie liefen aneinander vorbei, kaum fähig den Anderen zu bemerken. Nur Stalca begann sich langsam zu beruhigen und blieb schließlich erschöpft stehen. Er drehte den Kopf in alle Richtungen und versuchte wieder eine grobe Übersicht seiner Situation zu erhalten. Eine dünne Spur aus Fußtritten zog sich um ihn herum und auf einer dieser Spuren stand er selbst. Als er einen Blick in Richtung des dunklen Loches warf, das den Eingang der Mine bildete, begann sein Herz wieder schmerzhaft schneller zu schlagen, denn er hatte noch gut in Erinnerung was, oder besser wer während der Explosion die Mine verlassen hatte. Unsicher sah er sich um, doch es gab keine Spur mehr von irgendetwas Ungewöhnlichem.
Als er sich langsam wieder zu erinnern glaubte, setzte er seinen Weg in eine ganz andere Richtung fort. Komischerweise sah bei Tageslicht alles ganz anders aus oder war er inzwischen bereits zu einem Nachtwesen geworden? Was ein ganz und gar erschreckender Gedanke gewesen wäre. Ab und zu versuchte er einige seiner Leidgenossen anzusprechen, doch sie sahen ihn nur mit wirrem Blick an oder reagierten gar nicht auf ihn. Von da an vermied er es so gut wie es ihm möglich war ihnen über den Weg zu laufen, denn er begann sich vor ihnen zu fürchten.
So war er voll und ganz damit beschäftigt auf andere Isk zu achten, so dass er vergaß nach dem Ausschau zu halten, nachdem er suchte. Plötzlich glaubte er seinen Namen zu hören.
"Stalca.", kam es schwach rechts von ihm. Sofort drehte er sich herum und versuchte den Sprecher ausfindig zu machen.
"Túlak?" Noch ein paar Schritte und er entdeckte seinen Freund am Boden liegen. Eilig lief er auf ihn zu. "Túlak!"
"Stalca, was machst du hier?" Túlak machte keinen guten Eindruck. Sein Atem ging schnell und mühsam. Er musste einen heftigen Stoß abbekommen haben, wahrscheinlich von der Druckwelle, die der Explosion vorangegangen war. Aus einer Wunde an der Stirn sickerte Blut, doch ansonsten hatte er keine sichtbaren Verletzungen. "Du solltest längst von hier verschwunden sein."
"Ich werde ganz bestimmt nicht ohne dich von hier verschwinden.", entgegnete Stalca, der ein Stück von seinem dünnen Hemd abriss und es auf die Wunde legte.
Túlak ergriff seinen Arm. "Ich habe dir bereits gesagt, dass ich nicht gehen werde.", erinnerte er seinen Freund. "Sei kein Narr, jetzt ist es deine einzige Chance und ich sage dir noch einmal, dass du sie nutzen musst, da es keine Zweite geben wird. Dass tut es nie im Leben. Ich hätte nie gedacht, es würde überhaupt so weit kommen. Also verschwinde, bevor die Menschen wiederkommen."
Stalca sah sich um. Er wusste, was nun dort draußen irgendwo auf dieser Welt war. Vielleicht noch in dem nahen Stück Wald, welcher die Mine umgab. Eine leichte Dämmerung begann sich zu senken, doch sie kam zu früh um wirklich zu sein. Der Isk verspürte Angst vor dieser neuen Dunkelheit. Angst diesen sicheren Ort zu verlassen.
"Aber wohin soll ich denn gehen?", flüsterte er.
"Du weißt es.", versicherte Túlak ihm. "Du hast mir von deinen Träumen erzählt. Von den weiten, freien Ebenen, die sich zwischen den hohen Gebirgen erstrecken. Von Städten groß und mächtig, von den unendlichen Weiten des Meeres. Es sind keine Träume. Es sind Erinnerungen und dass weißt du auch. Du kannst stolz sein, solche Erinnerungen zu haben, denn sie erinnern dich daran, wohin du gehörst. Sie ziehen dich nach Hause, mit solcher Kraft, dass nichts dich irgendwo anders halten könnte. Dein Herz weiß, wo du hingehen sollst, also folge ihm."
Es herrschte eine lange Zeit Schweigen, doch Stalca blieb noch immer neben seinem Freund hocken. Solange, bis dieser ihn erneut ansprach. "Hörst du nicht? Oder willst du mich einfach nicht hierlassen, stur wie du bist. Ich werde immer bei dir sein, egal wo du dich gerade herumtreibst. Und am Ende wirst du wiederkommen, da bin ich mir sicher."
Stalca nickte endlich, doch noch immer mit leichtem Zögern. "Mögen die Götter mit dir sein, mein Bruder.", verabschiedete sich Túlak endgültig.
"Mögen sie vorher aber noch eine Weile bei dir bleiben." Tief in seinem Innern wusste Stalca, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb als zu gehen, doch noch immer hielt ihn seine Treue zurück. Aber er riss sich zusammen und erhob sich schließlich. Dabei verspürte er ein seltsames Schwindelgefühl, doch er verdrängte einfach alle Gedanken daran.
Er gab sich einen Ruck und drehte sich um, bereit in Richtung Wald zu verschwinden. Dann machte sich doch noch sein Freiheitsdrang bemerkbar, denn ihn befiel leichte Furcht, die Menschen könnten jeden Moment zurückkommen und ihn hindern wollen. Aber sie kamen nicht und so gelang es ihm in den Wald zu laufen.
Dort verschlangen ihn die Bäume und kein Auge konnte ihn von der Mine aus sehen. So kam es, dass ihn die Menschen erst vermissten, als es bereits zu spät war. Es herrschte zu großes Chaos um die Mine herum. Es war schwer festzustellen, wer tot war und wer noch am Leben. Am Ende fand man alle und nur einer fehlte, doch die Menschen glaubten die Leiche nur nicht gefunden zu haben und nur einer wusste es besser, doch dieser schwieg. Also war Stalca einer der Ersten und vorzeitig Letzten, die aus der Mine entkamen ohne den Tod zu wählen.
Eine Weile zog es Stalca immer weiter vorwärts durch den Wald, doch dann übermannte ihn die Erschöpfung. Müde lehnte er sich gegen den breiten Stamm einer Eiche, die am Wegrand stand. Ihre Blätter leuchteten im Licht der Sonne in allen Herbstfarben, doch er konnte sie kaum noch sehen. Das spärliche Gras um ihn herum wuchs noch einmal in aller Kraft und präsentierte sein sattes Grün, doch auch dies nahm er kaum war. Die Vögel kreisten am Himmel, die Letzten kurz vor dem Aufbruch nach Süden, doch auch sie bemerkte er nicht mehr. Der gesamte Wald schien vor seinen Augen zu verschwimmen. Ein undurchdringbarer Nebel schien ihm die Sicht zu versperren. Er versuchte ihn abzuschütteln, doch sein Kopf schmerzte bei jeder Bewegung und seine Glieder schienen taub geworden.
Plötzlich glaubte er eine Bewegung ganz in seiner Nähe zu spüren und er schreckte wieder hoch aus dem dunklen Nebel, der ihn gefangen hielt. Ein alter Mann kam den Weg entlang, ein harmloser Wanderer mochte man im ersten Moment denken, doch bei genauerem Hinsehen erkannte man den langen Stock auf den er sich zu stützen schien als einen langen Speer. Er war klein und gedrungen wie die Isk. Seine kräftigen Beine stützten mühelos das leichte Gewicht auch auf langen Tagesstrecken. Der gesamte Körper gebaut, um Tage und Nächte lang unterwegs sein zu können, auch in unwegsamen Gelände. Sein ergrautes Haar trug er in zwei dicken Zöpfen und aus seinem flachen Gesicht funkelten wachsam ein paar brauner Augen, doch diese Augen leuchteten in einem schwachen gelben Licht.
Er war ein Meister. Ein Isk-Meister. Gefürchtet unter seinen Feinden, die vor allem seine magischen Fähigkeiten nicht missachteten, wenn sie klug waren. Die Meisten gingen solchen Gefährten lieber aus dem Weg, solange es ging. Nur die Menschen waren nicht besonders klug, denn sie ahnten nicht, was für gewaltige Kräfte noch in den Meistern stecken konnten.
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