Die Männer starrten auf die Leiche, die sicher nicht ganz einfach in diesen Koffer hineingepasst hatte. Aber irgendwie war sie hineingekommen, und sie fragten sich, wie. Gleichzeitig machte sich ein aufdringlicher Verwesungsgeruch breit.
Polizeimeister Schulz hatte seine Dienstwaffe in der Hand.
»Sie werden die Waffe nicht brauchen, ich habe Sie schon lange erwartet. Und ich bin froh, dass ich jetzt nicht mehr mit ihr allein sein muss.«
Funke nahm sein Handy und rief die Zentrale an.
Es meldete sich jemand, es war nicht die Stimme von Iris.
»Strela vier, Polizeihauptmeister Funke. Geben Sie mir bitte Iris Sellin.«
Kurz darauf meldete sie sich. »Leo, habt ihr die Frau?«
»Ja, in einem Koffer. Verständige den KDD.«
»Was?«
»Frau Makowski ist seit mehreren Tagen tot. Der KDD soll übernehmen.«
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, sagte Funke: »Sie setzen sich jetzt auf den Stuhl an den Tisch. Ich möchte, dass Sie die Hände auf den Tisch legen und sie dort liegen lassen.«
Jörn Schulz hatte seine SIG Sauer P225 wieder ins Halfter gesteckt. Er ließ Günner jedoch keine Sekunde aus den Augen.
Der Mann hatte seinen Kopf zwischen die Unterarme auf den Tisch gelegt, so wie er es nach dem Säubern des Tisches gemacht hatte. Manchmal aber hatte er den Kopf gehoben, mit offenen Augen stundenlang in dieser Position verharrt. Sein Blick war dabei auf eine gerahmte Fotografie an der Wand fokussiert gewesen, die ihn und Suzanne in glücklichen Tagen am Strand auf der Insel Rügen zeigte. Längst hatte er keine Tränen mehr gehabt, sondern nur noch Angst. Angst, dass man ihm nicht glauben würde und er für eine Sache büßen müsste, die er nicht begangen hatte. Vor allem aber vor der Schande, wenn man ihn abführte. Und ein ohnmächtiges Gefühl des Verlustes traf ihn an der empfindlichsten Stelle seiner Seele. Er hatte Suzanne geliebt, wenngleich auf seine Weise.
»Sie haben gesagt, Sie hätten schon lange auf uns gewartet. Warum in Gottes Namen haben Sie uns nicht gleich angerufen?«
»Ich habe es mehrfach versucht«, sagte Günner leise.
»Und? Es ist bei dem Versuch geblieben?«, fragte Jörn Schulz.
»Nein, ich hatte einmal sogar den Notruf dran. Habe dann aber aufgelegt, weil ich Angst hatte, man würde mich einsperren.«
Polizeihauptmeister Funke mischte sich ein. »Was haben Sie eigentlich erwartet?«
Günner hob den Kopf. »Ich habe sie nicht umgebracht. Wir hatten wohl einen Streit, dennoch habe ich sie nicht umgebracht. Ich habe sie sehr geliebt.«
»Eben haben Sie etwas anderes gesagt«, sagte Jörn Schulz.
»Ich bin durcheinander, habe einen starken Schock.«
»Einen Streit? Worum ging es in dem Streit?«, fragte Funke.
»Suzannes Schwester ist einige Jahre zuvor um diese Zeit verstorben. Immer dann wird sie schwermütig.«
»Schwermütig?«
»Ja, schwermütig aber auch streitsüchtig.«
Funke schaute aus dem Fenster. Offensichtlich hatten sich schon einige Zuschauer eingefunden, die von dem ungewöhnlich geparkten Polizeifahrzeug angezogen wurden. Als wüssten sie, dass es in den nächsten Minuten hier etwas zu sehen gäbe, warteten sie wie die Aasgeier, die über einem sterbenden Rind kreisten.
»Woran ist die Schwester von Frau Makowski verstorben?«, fragte Funke übergangslos.
Schulz sah ihn verständnislos an, sagte aber nichts.
»Sie hatte wohl Hepatitis.«
»Aha«, sagte Schulz nur.
Es klingelte an der Tür. Funke sah aus dem Fenster und den Einsatzwagen der Kriminaltechnik. Es klapperte an der Tür, jemand schien durch den Briefschlitz zu schauen. Funke ging in den Flur und öffnete.
»Hallo Kollegen. Willkommen in der Hölle.« Er zeigte auf den offenen Koffer mit der Leiche.
»Die Frau muss aber schon einige Tage tot sein«, stellte Hauptkommissar Marcel Schroder, der leitende Beamte der KT, fest.
Durch das Fenster zuckte für einen Augenblick das blaue Licht des Einsatzwagens der Kripo auf.
Kurze Zeit später tauchte hinter Schroder, der noch einmal hinausgegangen war, um seine Kollegen zu instruieren, Kriminalhauptkommissar Jürgen Reiniger, der Stellvertreter Harald Verstappens, auf. Funke machte Meldung.
»Hat er schon was gesagt, außer dass er es nicht gewesen ist?«, fragte Reiniger.
Funke musste lächeln. Es war der Standardsatz, den Reiniger in jeder ähnlichen Situation anbrachte. Funke schüttelte den Kopf.
»Dann bringt ihn ins Kommissariat in die Barther Straße.«
Die Gruppe der Voyeure vor der Tür war angewachsen. Da war eine ältere Frau, die genau aus diesem Haus kam, um ihren Müll wegzuschaffen. Sie hielt die zwei Tüten noch in der Hand. Doch die Männer der KT waren gerade dabei, alles abzusperren, auch den Platz für den Müll. Sie untersuchten bereits den Inhalt eines Containers und fanden blutbefleckte Kleidungsstücke.
Weitere Menschen waren stehen geblieben, hatten dem Treiben mit Interesse und Erschrecken zugesehen.
Zwei Halbstarke schauten fasziniert zu, redeten ungeniert miteinander. »Der sieht aus wie ein Dealer.«
»Meinst du wirklich? Eher wie ein Penner, der irgendetwas geklaut hat. Sonst würde man ihn nicht in Jogginghose und offenem Hemd rausschleppen.«
»So etwas sieht man sonst nur im Fernsehen«, sagte die Nachbarin mit dem Müll zu einer anderen Seniorin. »Ich hätte nie gedacht, dass so etwas hier bei uns passiert.«
»Man kann nie in die Menschen hineinsehen«, antwortete die Angesprochene.
»Die Frau kam aus Berlin«, sagte die Frau mit der noch vollen Mülltüte.
»Da hätte sie bleiben sollen, dann würde sie noch leben.«
»Immer wieder gab es lauten Streit in der Wohnung«, sinnierte die Müllfrau.
»Aber die waren doch ein Paar?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Gewiss. Doch die Frau hatte nichts zu lachen.«
»Die haben immer gesoffen. Manchmal stank das Gelumpe bis ins Treppenhaus«, stellte ein älterer Mann fest, der den beiden Frauen zugehört hatte.
»Glaubst du noch an die Macht des Guten, Liesbeth?«
»Wenn ich das sehe ... Eher wohl nicht. Ich werde mir eine zweite Kette an meiner Eingangstür anbringen lassen.«
»Es ist einfach nur grausam.«
Inzwischen hatten die beiden Polizisten Remy Günner in den Funkwagen verfrachtet, der sich nun langsam in Bewegung setzte.
»Das warʼs für uns«, sagte einer der beiden Halbstarken und stupste den anderen in die Seite. »Lass uns abhauen.«
Langsam zerstreuten sich die Menschen, die plötzlich über ungeahnte Zeitreserven verfügt hatten.
Während Polizeihauptmeister Funke mit seinem Kollegen Jörn Schulz Remy Günner zum Wagen brachten, begannen die weiß gekleideten Männer ihre Arbeit in der Wohnung. Stück für Stück suchten sie die Räume nach Blutspuren ab, die sie allerdings ausschließlich im Küchenbereich auf und unter dem Tisch feststellten. Dafür fanden sie andere Dinge, Medikamente gegen Epilepsie … Antikonvulsiva, diverse Antiepileptika, dazu Zolpidem, Zopiclon und andere Schlafmittel.
Jürgen Reiniger wiederum benachrichtigte kurz Verstappen über die aufgefundene Situation, und der wiederum verständigte den zuständigen Leiter der Kriminalpolizei in Neubrandenburg. Kurze Zeit später waren die Beamten der Sonderkommission für Straftaten gegen das Leben und die Gesundheit auf dem Wege nach Stralsund.
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Donnerstag, 10. Juli 2008
Gerd Thun kannte die Polizeidirektion in Anklam. Das Gebäude in der Friedländerstraße 13 war nach der Wende neu entstanden. Um die Region hier nicht ganz von der Entwicklung abzuhängen, hatte man die Polizeidirektion nicht nach Greifswald oder Stralsund gegeben, sondern hier, nahe des Zugangs zur Insel Usedom, angesiedelt.
Es hatte der Stadt zwar nur wenig Auftrieb gebracht, kamen doch die meisten Beamten aus anderen Städten angefahren, aus Lubmin, aus Stralsund, aus Greifswald und Umgebung, doch erfüllte diese Institution auch eine Aufgabe, Sicherheit zu verbreiten, denn Anklam war eine Neonazi-Hochburg.
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