„Ich pfeife auf alle deine Jobs. Busfahrer hier in Merritt werde ich sein und basta. Das ist mein Traumjob.“
Marco schloss die Augen, lehnte sich zurück und lächelte. In Gedanken saß er in einem geräumigen Bus und fuhr durch die wunderschönen Landschaften und Orte Floridas.
„Wenn unser Flug klappt, dann werden wir berühmt“, sagte Jeff erregt. „Dann kannst du sogar Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden.“
Marco öffnete die Augen.
„Ach, der macht auch nur Mist“, sagte er nachsichtig. „Und vom richtigen Leben hat der Null Ahnung.“
„Und du hast dafür Null Ehrgeiz. Mann!“ Jeff ärgerte sich jetzt richtig. „Schau Jerry an. Der programmiert Tag und Nacht, damit es mit Projekt M voran geht.“
„Das versteh ich sowieso nicht“, gab Marco zu. „Jerry kann das ganze Zeug doch nicht alles alleine programmieren. Das ist doch viel zu viel.“
„Jerry kann das. Im Programmieren ist er ein Genie.“
„Trotzdem“, beharrte Marco. „Da sitzen im Kontrollraum ganz viele Leute herum. Und die kontrollieren doch alles dauernd rund um die Uhr.“
„Damit gibt es überhaupt kein Problem“, erwiderte Jeff siegesgewiss. „Jerry hat bereits an alles gedacht und einen ganz normalen, langweiligen Tagesablauf vorprogrammiert. Und den haben wir schon kurz über die Bildschirme im Kontrollraum laufen lassen.“
„Ihr habt das schon probiert?“
„Neulich am Sonntag, wo nicht so viel los war. Für ein paar Minuten haben wir die Bildschirme gekapert und keiner hat´s gemerkt“, freute sich Jeff.
„Das hätte doch auffliegen können“, sagte Marco bestürzt.
„Ist es aber nicht“, erwiderte Jeff.
„Hm“, machte Marco und schaute beleidigt. „Und du hast mir darüber nichts gesagt.“
„Du weißt doch wie Jerry ist. Er hat immer Angst, dass was rauskommt. Und wenn was passieren sollte, dann will er uns nicht alle mit reinziehen.“
„Echt? Jerry ist bereit, alles auf seine Kappe zu nehmen?“
„Ja, das ist er. Aber mach dir keine Sorgen, irgendwann sitzen wir alle zusammen in einem Boot.“
„Hm.“
Marco musste wieder nachdenken.
„Und nächstes Jahr plant Jerry, die Anzeigen im Kontrollzentrum für eine halbe Stunde in Beschlag zu nehmen. Wenn das klappt, dann wird das auch am Abflugtag funktionieren. Und wir werden schön abheben.“
Jeff machte dabei mit seiner rechten Hand begeistert eine langsame Bewegung in Richtung Himmel.
„Ich weiß nicht“, sagte Marco nachdenklich. „Wie viel Zeit werden wir brauchen, um in die Rakete zu kommen?“
„Jerry sagte, es darf höchstens zwei, drei Stunden dauern.“
„So wenig? Das kann nie im Leben gut gehen. Und wenn was Unvorgesehenes passiert?“
„Wenn du mit der nervigen Fragerei nicht aufhörst, dann passiert gleich hier was Unvorgesehenes. Guck lieber zu, dass du heute Abend noch einen guten Spickzettel mit den Formeln hinkriegst. Ich schau mir den morgen an.“
Marco schwieg und Jeff stand auf, um sich auf den Nachhauseweg zu machen. Damit war der Nachmittag beendet und sie gingen mit einer kühlen Verabschiedung auseinander.
Im Verlauf ihrer Freundschaft hatte sich ein Ritual eingespielt, wie manche Unterhaltung zu beenden war. Wenn Marcos Bemerkungen Jeff nervten, dann reagierte er so, dass sich Marco beleidigt fühlte und schwieg. So war es auch heute geschehen. Jeff war nun mies gelaunt und hatte keine Lust, Marco mitzuteilen, dass sie sich demnächst zu sechst treffen würden – mit Ali und Chang. Chang war vor einigen Tagen von Frank für Projekt M `gekeilt´ worden. Jeff schloss sich danach Jerrys hoher Meinung über Frank an.
***
Es war Freitagabend, bei Familie Strela dampfte das Abendessen auf dem Tisch. Angelina hatte Jerrys Lieblingsessen zubereitet, russische Borschtschsuppe mit Speckbrot, und rief nun die Familie zusammen. Jeff und Jerry waren auf ihren Zimmern und mit Hausaufgaben beschäftigt – wie immer, wenn sie Ruhe haben wollten.
Igor war heute schon um achtzehn Uhr aus der Arbeit gekommen. An den meisten Tagen tauchte er erst gegen sieben oder noch später zu Hause auf. Das galt auch für Freitage. Wenn er früher kam, hatte es meistens einen triftigen Grund. Mel saß auf ihrem Lieblingsplatz und freute sich, weil am heutigen Abend alle beisammen sein würden. Trotz des Ärgerns ihrer Brüder liebte sie ihre Familie und genoss das angenehme Leben in ihrer Mitte.
„Jeff! Jerry!“, rief Angelina aus der Küche noch einmal. „Essen ist fertig. Vater ist auch schon da.“
Jeff tauchte auf der Treppe auf und schlenderte hinunter.
„Ich hab keinen Hunger“, rief Jerry aus seinem Zimmer. „Ich muss noch was für die Schule machen.“
„Ich hab Borschtsch vorbereitet“, rief Angelina zurück. „Außerdem will Vater mit dir reden.“
Zwei Umstände, die es Jerry nicht erlaubten, dem gemeinsamen Abendessen fern zu bleiben. Wenn sich seine Mutter die Mühe gemacht hatte, sein Lieblingsessen zu kochen, da musste er gehen. Außer er wäre krank gewesen. Dann hätte ihm Angelina die Suppe ans Bett gebracht. Und wenn Vater früher nach Hause gekommen war, um mit ihm zu reden – da griff eh keine Ausrede.
Igor war ein strenger Vater, aber meistens gerecht. Die Jungs wussten das. Ihre Eltern sorgten für eine gute Umgebung, wie zum Leben so auch zum Lernen. Dafür arbeiteten beide hart und erwarteten als Gegenleistung einiges von ihren Söhnen. Aber die waren in der Regel bei fast allen Angelegenheiten mit Begeisterung dabei. Sie beteiligten sich am Familienleben, trieben Sport und kamen zur Freude ihrer Eltern in der Schule gut mit.
`Was kann Vater nur wollen?´, fragte sich Jerry. `Ob die im Space Center was rausgekriegt haben? Oder ist es vielleicht wegen der Schule?´
„Okay, ich komme gleich“, rief Jerry und sperrte wie immer zur Sicherheit seine Bildschirme. Dann ging er hinunter.
Das Abendessen fand im Esszimmer neben der Küche am runden Tisch statt. Jedes Familienmitglied hatte seinen festen Platz. Jerry saß rechts und Jeff links von Igor. Links neben Jeff war Mel und dann folgte schon Angelinas Platz nahe der Tür zur Küche. Jerry kam und setzte sich demonstrativ lustlos mit der Stuhllehne vor der Brust hin. Keine gute Idee, wie sich gleich herausstellte.
„Bitte setz dich richtig hin“, wies ihn Igor zurecht.
Angelina begann mit Jerry und goss ihm eine große Kelle Suppe auf den Teller.
„Für dich hab ich wie immer zwei Teller, Jerry“, sagte sie.
„Danke, Mutter.“ Jerry mochte die Suppe wirklich. Unter zwei Teller ging es fast nie.
„Nicht so viel, bitte“, kreischte Mel, als sie sah, dass die Suppe ihren Teller bis zum Rand füllte. „Das ist Jerrys Lieblingssuppe, nicht meine.“
„Abends ist es kühl und eine warme Suppe tut dir gut. Guten Appetit“, wünschte Angelina allen beim Hinsetzen.
„Danke, ebenfalls“, kam die prompte Antwort ihrer Kinder.
Igor nickte zur Zustimmung nur mit dem Kopf. Wortlos löffelten sie die warme Suppe. Ab und zu erklang ein leises Klimpern, wenn ein Löffel gegen das Porzellan stieß. Jeff machte die Stille nervös. Er spürte, wie sein Kopf langsam heiß und rot wurde.
`Irgendetwas steht noch an´, dachte er. `Wenn ich nur wüsste was.´
Igor räusperte sich.
„Jerry, also …“ Er machte eine kurze Pause. „Ich habe gestern zufällig mit deinem Mathematiklehrer gesprochen. Mit Herrn Brunner.“
Überrascht sah Jerry vom Teller auf.
„Er sagte mir, er mache sich Sorgen“, fuhr Igor fort. „Ob du das Jahr schaffst, wenn du so weiter machst.“
„Das darf nicht wahr sein“, fuhr Jerry wütend hoch. „Jetzt kontrollierst du auch noch meine Noten.“
Er sprang auf, rannte auf sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Igor und Angelina schauten sich verdutzt an. Mel machte sich klein und Jeff wäre auch am liebsten unsichtbar geworden.
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