Die weiße Leinwand, ein plakatgroßer, bespannter Keilrahmen, lag auf meinem alten Schreibtisch. Ich drehte einen Bleistift zwischen den Fingern, um meine feigen Hände zu beschäftigen. Die Staffelei wartete in der Ecke. Am Anfang der Arbeit bevorzugte ich den Tisch – vielleicht, weil man die Leere einer liegenden Fläche nicht so deutlich wahrnahm. Von Zeit zu Zeit schob ich kleine Papierfetzen von einer Stelle der Leinwand auf eine andere und zeichnete ein paar Linien. Ich wollte den optischen Ausgleich zwischen der Intensität der Farben, der Dichte der Elemente und dem leeren Hintergrund erforschen. Die geometrische Dynamik, die selbstbewusst genug war, um ein Gemälde mit Form und Inhalt gleichzeitig zu versorgen, faszinierte mich schon seit einiger Zeit und das Motiv, an dem ich arbeitete, folgte bereits einem Dutzend anderer Bilder zu diesem Thema. Nur dieses Mal hatte ich den Eindruck, an einer Stelle gelandet zu sein, die keine Fortsetzung erlaubte.
Ich schob die Papierfetzen zur Seite und überlegte, ob ich zu dem Blumentopf greifen sollte, in dem sich zwischen jungen Bambushalmen ein paar trockene Blätter Cannabis versteckt hatten, die eine selbstgedrehte Zigarette in einen kleinen Gute-Laune-Schub verwandeln konnten. Das Sonnenlicht, gefiltert durch das Efeugeflecht vor dem offenen Fenster, tanzte spöttisch auf der Leinwand und ich konnte die gedämpften Schritte der Passanten auf dem Bürgersteig hören, der auf meiner Augenhöhe hinter einer kleinen Mauer lag.
Die Bezeichnung Atelier passte zu dem kleinen Raum im Souterrain, in dem ich wohnte, genauso wenig wie der Begriff Jugendstil zu dem ganzen heruntergekommenen Haus. Es war eins von diesen alten Häusern, in denen früher oder später die Gasleitung im Keller leckte und nachdem alles in die Luft geflogen war, fragte man sich bei der Untersuchungskommission nicht » Wie ist es dazu gekommen? « sondern nur » Warum erst jetzt?! «. Die zwei Begriffe Atelier und Jugendstil hatten aber wirklich in dem Inserat gestanden und mich dazu bewogen, die ehemalige Hausmeisterwohnung zu nehmen. Nicht ohne Bedeutung war wohl auch die niedrige Miete gewesen.
Das andere Fenster blickte in die Dunkelheit. Hinter ihm befand sich die Einfahrt zu einem Hinterhof, die ich als Garage für den dreißig Jahre alten VW- Kübel benutzen durfte. Den Hinterhof gab es nicht mehr – hier war nun das Lager einer Getränkehalle, ein paar leicht überdachte Stahlträger und Wände aus Gasbetonsteinen. Manchmal konnte ich hören, wie dort ein Gabelstapler Europaletten mit Mineralwasserflaschen und Bierkasten verteilte. Dieses Fenster hatte ich in ein schickes Regal umfunktioniert. Auf drei Brettern lagen dort ein paar verstaubte Bücher und ein Stapel alter Schellack-Platten, darüber stand ein in absurden Blumenmustern bemaltes Sparschwein, das seit Monaten an permanenter Unterernährung litt.
Im hinteren Teil des Zimmers standen gerade zwei bunte Karussellpferde, die ich seit einer Woche mühsam renovierte und die ich dem Besitzer und meinem besten Kunden, Holger, in den nächsten Tagen zurückbringen sollte. Meist arbeitete ich nachts an meinen Bildern, während der Tag für Aufgaben wie diese vorgesehen war, die meinen bescheidenen Unterhalt sicherten. Die wahre, kompromisslose Kunst ließ sich eben kaum verkaufen. Doch die vergangene schlaflose Nacht hatte kein Ergebnis gezeitigt und mein Vorrat an Optimismus war erschöpft. Es hatte keinen Zweck, zur Leinwand zurückzukehren, und die Pferde waren noch nicht trocken genug, um an ihnen weiterzuarbeiten.
Meine Stimmung befand sich also nicht ohne Grund auf dem Tiefpunkt. Das Zwitschern der Spatzen im Efeu ging mir auf die Nerven, als ich zwei Schatten, die vor meinem Fenster herumschlichen, bemerkte. Fast gleichzeitig landete ein großer Apfelgriebs in der Schüssel, in der ich die Pinsel abgelegt hatte. Terpentinöl und Farbreste spritzten heraus, bekleckerten das Bild, den Schreibtisch, die Wand, mich und sogar die Pferde – aber am stärksten meine Ehre als Souterrain-Bewohner.
Das Adrenalin brauchte nur wenige Nanosekunden, um die Nächstenliebe aus meinem Herzen zu verjagen, und schon schoss ich auf die Straße mit einem klar strukturierten Programm im Kopf: Locate – Engage – Terminate . Ich war so sauer, dass man in dem Augenblick den Terminator, verglichen mit mir, für einen Zeugen Jehovas gehalten hätte. Der Bürgersteig vor dem Haus war voller Schlaglöcher, die letzten Reparaturen hatte man vermutlich gemacht, als der frisch nominierte Kanzler Bismarck vorbeikommen sollte. Und die Laufstrecke war schon gar nicht geeignet für Flip-Flops. Der erste Punkt meines Programms, Locate, war vergleichsweise leicht zu erfüllen – ich sah zwei Jungs wegrennen, sie verschwanden gerade hinter dem türkischen Obst- und Gemüseladen an der Ecke. Der zweite Punkt, Engage, kam allerdings gar nicht erst zustande und Punkt drei, Terminate, wurde offensichtlich vom System falsch interpretiert. Nach etwa zwanzig Metern Verfolgungsjagd durch die Schlaglöcher musste ich meinen angeschwollenen, wild pochenden großen Zeh massieren, um dann einen strategischen Rückzug vorzunehmen. Einem echten Terminator wäre so etwas natürlich nicht passiert.
Nachdem ich humpelnd den Eingang des Hauses erreicht hatte, ließen die Emotionen nach und auf einmal wusste ich, dass die Partie doch noch nicht vorbei war: Manchmal stand das Tor des Getränkegeschäftes hinter dem Haus offen und dann konnte ich den Weg zur Hauptstraße abkürzen. Schnell öffnete ich den Eingang zum Hinterhof. Der Gabelstapler war direkt an der Wand abgestellt – der Zugang zur Halle stand frei. Das Auge des Terminators leuchtete rot auf.
Ich startete den Parcours-Lauf nicht ganz optimal, mein linker Fuß hatte sich in einer der unverwüstlichen Banderolen, die die eingeschweißten Paletten zusammenhielten, verheddert und beim Sturz hätte ich beinahe einen verheerenden Dominoeffekt ausgelöst, weil die Bierkästen, die mir im Weg standen, übereinandergestapelt waren und leicht aus dem Gleichgewicht gerieten. Ich stand schnell auf und stellte mir grob vor, wie eine optimale und spektakuläre Variante des Laufes aussehen könnte : Ein Vorwärtsdoppelsalto, dann ein seitlicher Sprung an die Wand mit einer halben Schraube – natürlich nur, um in Schwung zu kommen – dann vier nacheinander folgende Handüberschläge, um den Ausgang zu erreichen, und am Ende eine mehrere Meter lange Rutschpartie unter der sich gerade absenkenden Gabel des Staplers. Durch die verdammte Banderole und meine bescheidene körperliche Verfassung musste ich den vereinfachten Ablauf wählen. Ich trottete also humpelnd neben dem Gabelstapler her, grüßte den Lagerarbeiter, der gerade die erste von seinen zahlreichen Zigarettenpausen genoss, und mit einem quergestellten, nur an meinem großen Zeh hängenden linken Flip-Flop gelangte ich endlich zum Ausgang.
Auf dem Bürgersteig vor der Getränkehalle konnte ich direkt zum dritten Punkt des Programms, Terminate , übergehen – die Pisser waren wenige Schritte entfernt und hatten mich noch nicht bemerkt.
Sie waren im gleichen Alter, seit Kurzem erst Teenager. Der eine war größer, auffallend schlank und sah in seiner viel zu großen, schwarzen Lederjacke wie ein Zombie aus. Sein blasses Gesicht, sein schwarzes, langes Haar, seine dunkle Sonnenbrille, seine zu kurze Hose, die weißen Socken und die kleinen Pflasterstreifen an den Fingern ließen keinen Zweifel, dass ihm Michael Jackson etwas bedeutete. Selbst seine Bewegungen schienen aus einem Video-Clip zu stammen – er klatschte bei jedem zweiten Schritt in die Hände und streckte den Kopf nach vorne wie ein ungeduldiger Truthahn. Er machte auch die Tanzschritte, die den Marsch nach vorne vortäuschten, während sich der Körper tatsächlich rückwärts bewegte, und er machte das wirklich gut. Es fehlte nur der umstrittene Griff an den Unterleib – vielleicht war beim letzten Tanztraining etwas schief gegangen. Der andere Junge war etwas kräftiger gebaut, aber um einen halben Kopf kleiner. Er trug eine gelbe Schirmmütze, eine dazu passende Sonnenbrille und eine ausgeleierte Hose mit tausend Taschen und dem Schritt drei Zentimeter über dem Boden. Ein Hip-Hop-Anhänger, für mich Grund genug, um ihn mir als Ersten vorzuknöpfen.
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