Nach all den aufregenden Ereignissen dieses langen Tages ließ meine Konzentration allmählich nach und meine Gedanken schweiften ab. Also räumte ich die anderen Spuren des Überfalls im Atelier auf und widmete mich wieder dem Geldverdienen. Die Karussellrösser waren inzwischen trocken und nach einer bescheidenen Mahlzeit konnte ich die restliche Arbeit zu Ende bringen.
Die Pferde hatten einen eigenartigen, gequälten Gesichtsausdruck, was aber nicht weiter verwunderlich war für Fluchttiere, die paarweise pausenlos im Kreis laufen mussten und noch dazu Kirmesmusik ausgesetzt waren. Eine anständige Schicht Firnis, die ich am Ende auftrug, sollte den alten Charakter der Figuren vor den Auswirkungen der modernen Umwelt – in Gestalt der Zappel-Kevins und Chantals – schützen. Doch auch in früheren Zeiten hatten Kinder es immer wieder geschafft, diverse Spuren zu hinterlassen. Die Restaurierungsarbeit offenbarte nicht nur einen unerschöpflichen Reichtum an Ideen, was das Stopfen von Kaugummis in nicht dafür vorgesehene Löcher und Ritzen im Holz anging, sondern auch überraschende Indizien verzweifelter Kampfhandlungen – in einer mit Spachtelmasse überzogenen Vertiefung am Ohr eines der Pferde entdeckte ich zwei Milchzähne.
Am Abend ging ich noch einmal mit Bert spazieren und nutzte die Pause, um über die Änderungen, die ich an dem Bild machen musste, nachzudenken. Ich sah aber keinen wirklichen Durchbruch – das, was mir vorher aufgefallen war, reichte nicht. Eine neue Idee musste her.
Bis Mitternacht hatte ich alle notwendigen Korrekturen an den Pferden durchgeführt und dabei etwas Wein getrunken. Danach begleiteten John Coltrane und sein Saxofon das Schaukeln meiner Hängematte. Ich war in einer guten Stimmung, der Abgabetermin der renovierten Pferde am folgenden Tag konnte eingehalten werden. Doch plötzlich hatte ich wieder die schlanke Gestalt des jungen Michael-Jackson-Fans vor Augen, seine komische Frisur, seine Nervosität, aber vor allem die perfekten Schritte, als er den Marsch nach vorne darstellte und sich tatsächlich rückwärts bewegte – den berühmten Moonwalk.
Ich stand auf, pfiff leise die Anfangsmelodie von Thriller, schnippte mit den Fingern und versuchte, die Schritte nachzuahmen. Eines war sicher: Ich konnte es nicht. Wenige Minuten später hatte ich ein entsprechendes Video-Tutorial gefunden. Eine junge Asiatin erklärte jede Bewegung in schlechtem Englisch und lachte dabei. Obwohl ich mir das Video mehrmals anschaute, auch in Zeitlupe, wollte es mir einfach nicht gelingen, ihre Bewegungen nachzumachen. Nach zehn Minuten weiterer Bemühungen gab ich auf und musste mir eingestehen, dass ich eine Art Respekt gegenüber den beiden Jacksons empfand – dem echten Michael Jackson, aber auch dem anderen gegenüber, der jetzt vermutlich mit einer Infusionsnadel im Unterarm genauso blass aussah wie sein Idol. Und etwas Neid spürte ich auch.
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