„Ihr werdet gelegentlich zusammen gesehen.“
„Zufall.“
„Dass ihr zusammen gesehen werdet? Mag sein, aber-“
„Nein, Zufall, wenn ich mit denen zusammen bin, Herr Adams. Wir laufen uns gelegentlich über den Weg, mehr nicht. Glauben Sie mir, ich würde das gerne vermeiden.“
„Das kannst du ab jetzt. Hierher kommen die nicht. Das ist ein gutes Viertel, weit genug von denen weg. Hast du noch einmal mit deinem Vater und deiner Mutter gesprochen?“
Elijah nickte. „Heute Morgen. Sie wissen Bescheid.“
Elijah war ins Wohnzimmer gegangen, wo sie beide in den Sesseln lagen, der Tisch voll mit Flaschen Bier und Apfelschnaps und klebrigen Rändern auf der Platte, die Aschenbecher quellten über. Die Luft war grau vom Zigarettenqualm, der Fernseher lief ohne Ton, ein Sexvideo auf dem neuen Videorekorder, und Elijah hatte sich vor den Fernseher gestellt und gesagt, dass er ausziehen würde. Seine Mutter hatte gelallt, warum er sich denn ausziehen wollte, was sollte das denn jetzt, das wäre doch unanständig, er wäre doch ein anständiger Junge. Er sagte, er würde aus der Wohnung ausziehen , er würde von hier wegziehen , und er würde jetzt gehen, jetzt . Gulli hatte dann geflucht und ihn beschimpft, wie er das immer tat, als Hurensohn und Nichtsnutz und Penner, aus dem nie etwas werden würde, und er würde sich noch umgucken. Dann hatte Gulli eine Flasche Bier nach ihm geworfen, aber Elijah machte einen Schritt zur Seite und die Flasche war gegen die Wand geknallt, ohne kaputt zu gehen. Die Mutter hatte die Arme nach Elijah ausgestreckt, aber er war stehen geblieben, da hatte sie angefangen zu weinen, still, in sich hinein, und dann die Beine angezogen und gerülpst und zu jammern angefangen, wie es ihre Art war. Sie wusste, dass Gulli das nicht mochte, dass es ihn aufbrachte, und Elijah wusste es auch, und es kam, wie es immer kam, Gulli schob sich aus dem Sessel, und Elijah sah erst jetzt, dass Gullis Hose offen stand und sein Schwanz herauslugte; Gulli sprang hinüber und riss der Mutter an den Haaren und knallte ihr erst eine, die sie mit den Armen abwehren konnte, dann noch eine, mit dem Handrücken, eine weit ausholende Bewegung, die sie mitten ins Gesicht traf. Gulli war dann getorkelt und auf sie gefallen.
Elijah war hin und hatte Gulli weggerissen und am Kragen festgehalten, auf Armeslänge, und ihn angesehen, ihn, dem der Hass aus den wässrigen Augen schoss und dem unten immer noch was aus der Hose rauslugte und der ihn anschrie, „Wat, du Penner, wat willste, hä? Du wirst dich noch umgucken.“ Elijah konnte die Spucke zwischen den gelben Zähnen sehen.
Elijah hatte ihm eine Ohrfeige verpasst, auch mit dem Handrücken, auch mitten ins Gesicht, und Gulli war mitsamt seinem Geifer und seinem Hass und seiner offenen Hose auf den Boden gerutscht und liegen geblieben.
Elijah hatte sich dann umgedreht, seine Tasche genommen mit allem, was er besaß, und war gegangen. Er konnte nicht mehr für seine Mutter tun.
Adams sagte, „Du hast mit beiden gesprochen?“
Elijah nickte. „Wir haben alles geklärt.“
„Das ist gut. Deine Eltern haben nicht mehr das Sorgerecht, das liegt jetzt beim Staat. Aber es ist immer besser, wenn die Eltern Bescheid wissen und einbezogen sind. Also“, sagte Adams dann, „du hast es gesehen, das Zimmer hat einen Schrank, ein Bett, eine Couch, du hast ein kleines Bad und sogar eine Spüle und zwei Herdplatten und den kleinen Ofen. Du kannst dir also Dosen aufwärmen und alles, Pizza. Das Amt zahlt die Miete direkt an deine Vermieterin, dreihundert Mark inklusive einem Abschlag für Heizung, Strom und Wasser. Der Abschlag ist nicht so üppig, sei also sparsam, okay? Dazu bekommst du das Kindergeld, das bislang an deine Eltern ging. Aber damit-“
„Das will ich nicht haben.“
„Was willst du nicht haben?“
„Das Kindergeld. Ich will nichts von denen.“
„Das Kindergeld, Elijah, gehört nicht deinen Eltern. Es gehört dir. Der Staat zahlt dieses Geld für die Kinder, nicht für die Eltern. Also, du bekommst das Kindergeld, aber das sind nur fünfzig Mark, und die reichen nicht. Du musst selbst etwas dazuverdienen. Wir haben so etwas noch nicht gemacht, einen Minderjährigen aus der Familie rausnehmen und ihn nicht wieder in ein Heim geben oder in eine Pflegefamilie, sondern ihm stattdessen eine eigene Wohnung finanzieren und ihn allein leben lassen. Du bist der Erste, Elijah. Eine Art Experiment. Ich hab mich dafür ins Zeug gelegt. Ich hab mich für dich stark gemacht.“
„Ich weiß, Herr Adams. Vielen Dank.“
„Deshalb sage ich das nicht, Elijah. Meine Chefs sind von der ganzen Sache nicht so überzeugt, die werden genau hingucken. Wir erwarten von dir, dass du etwas hinzuverdienst neben der Schule. Dreimal die Woche in dem Supermarkt, in dem wir vergangene Woche waren, der Leiter hat mich angerufen, du kannst Montagnachmittag anfangen. Jetzt am Montag, übermorgen. Ich gebe ihm deinen Stundenplan, er setzt dich nur ein, wenn du Zeit hast. Sollte er von dir verlangen, während der Unterrichtszeit in den Laden zu kommen, auch nur ein einziges Mal während der Unterrichtszeit, rufst du mich sofort an. Die Frau Rommelfanger lässt dich telefonieren, hast du ja eben gehört. Oder du kommst vorbei. Aber ich gehe nicht davon aus. Die freuen sich da auf deine Hilfe. Das ist ein schöner Laden, sauber und alles, ich geh da auch ab und an rein, da steht niemand davor rum und trinkt Alkohol oder so, raucht. Du musst natürlich alles machen, was anfällt, Regale einräumen, LKWs entladen, so was halt. Hinten im Laden ist auch eine Fleischtheke, die wird von der Metzgerei neben dem Markt beliefert, vielleicht musst du da auch mal helfen. Ansprüche kannst du keine stellen. Du darfst nur keinen Mist bauen, dann läuft das. Und dann natürlich Schule. Das ist das Wichtigste, Elijah. Kriegst du das beides hin, Supermarkt und Schule?“
Elijah hatte oft genug davon geträumt. Zur Schule gehen. Auf eigenen Füßen stehen und nach Hause kommen und niemand ist da, der betrunken ist, rumpöbelt, Streit sucht. Niemand.
Jetzt hielt er seinen eigenen Haustürschlüssel zu seiner eigenen Wohnung in der Hand.
Er sagte, „Ja, das krieg ich hin.“
„Ich glaube auch. Ja, ich habe ein gutes Gefühl bei dir. Aber enttäusch mich nicht, Elijah.“
„Werde ich nicht, Herr Adams.“
„Sag mal, das Mädchen, mit dem du vorhin gekommen bist, die jetzt da draußen wartet, ist das deine Freundin?“
Elijah dachte nach. Sie waren Arm in Arm durch die Stadt gegangen und hatten geredet. Layla von ihrer Schule, sie ging auf eine Mädchenrealschule, wie langweilig es da wäre ohne Jungs und nach dem Schuljahr, wenn die Noten stimmten, im Moment sähe es aber nicht so danach aus, dann würde sie vielleicht aufs Gymnasium wechseln, und sie hatte ihn angezwinkert, „Vielleicht auf deins“, und später dann irgendwas mit Menschen machen, Ärztin, wenns mit dem Gymnasium klappt, Krankenschwester, wenn nicht, jedenfalls nicht zur Verwaltung wie Vater und ganz bestimmt nicht Hausfrau wie Mutter.
Er hatte gesagt, er würde Polizist werden, aber nicht in Trier.
Am Woolworth vorbei hatte es aufgehört zu regnen, und irgendwann musste er den Schirm zumachen, weil es blöde aussah, sie waren die einzigen mit geöffnetem Schirm. Er hatte den Schirm also zugemacht, und sie nahm ihren Arm weg, ging ja nicht anders. Dann aber hatte sie mit einem Ruck seine Hand gegriffen und festgehalten und nicht mehr losgelassen.
„Ich weiß nicht“, sagte Elijah. „Vielleicht.“
Adams lachte. „Das solltest du aber wissen. Nettes Mädchen, hat ganz nett Guten Tag gesagt. Egal, deine Sache, ich rede dir da nicht rein. Wer alt genug für eine eigne Wohnung ist, ist auch alt genug für eine Freundin. Nur, wenn du sie mal mit hoch nehmen willst, klär das vorher mit der Frau Rommelfanger ab. Sie wird nichts dagegen haben, denke ich, trotzdem.“
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