Yal senkte den Kopf. Er brachte kein Wort heraus.
„Das Zeichen ist perfekt geworden“, meinte Varruk lächelnd.
Yal schielte auf seine Schulter. Schwarz hob sich das Mal von seiner bronzefarbenen Haut ab. Unzählige Linien, Kreise, die einen Weg formten, der in sieben Umgängen zur Mitte und wieder hinausführte. Das Symbol für Myn Fantrix, für die Unendlichkeit und den Weg des Lebens. Er schauderte. Nun war er gezeichnet und würde keine Ruhe finden, bis er seine Aufgabe erfüllt hatte. Mit steifen Fingern griff er nach Hemd und Wams und zog sich wieder an.
Eine eigenartige Traurigkeit ergriff von ihm Besitz. Er war ein Heimatloser, ein einsamer Wanderer zwischen den Welten. Das war wohl sein Schicksal, wie das aller magischen Geschöpfe. Er hatte geglaubt, einen Platz zum Ausruhen gefunden zu haben, sich erholen zu können von etwas, von dem er nicht einmal wusste, was es war. Hatte sein Häuschen in Findward lieben gelernt, sich gefreut, endlich ein Zuhause zu haben.
Er hatte auch die Menschen lieben gelernt, selbst wenn sie nicht vollkommen waren. Seltsam – warum kam ihm das erst jetzt zu Bewusstsein?
Varruk wartete geduldig, bis Yal fertig angezogen war. So etwas wie ein Lächeln war auf seinem Gesicht, als er sagte: „Ich wünsche dir viel Glück, Yal Rasmon. Möge deine Aufgabe zu einem guten Ende kommen.“
Yal nickte. Er musterte die Herrinnen und Herren der Elemente. Das Bedauern und die Furcht in Sel Dragmons Miene ließ ihn schlucken. Lalana Yallasirs Gesicht war eine weiße Maske. Die anderen lächelten. Mitleidig, wie ihm schien, oder auch unverbindlich. Sein Schicksal als Marionette Varruks berührte sie nicht wirklich.
Er hüllte sich in seinen Umhang, verneigte sich und ging.
*****
„Was sollte das eben? Du spielst mit uns. Und du hast mir versprochen, den Namen des Mörders zu nennen!“ Lalana Yallasir spuckte vor Wut. Sie riss die Hände hoch und eine Wasserfontäne schoss aus dem Boden, sprühte durch die Halle. Varruk Erasant wich ihr geschickt aus und richtete seine Handfläche gegen den Strahl. Eine Garbe aus orangeroten Flammen fraß das Wasser auf. Heißer Dampf zischte, legte sich auf den Tisch und die acht Stühle.
„Mäßige dich, meine Liebe“, sagte er in schleppendem Tonfall. „Ich bin stärker als Madryl, mich kannst du nicht am Gängelband führen. Außerdem scheinst du mir nicht richtig zugehört zu haben. Ich habe niemals etwas versprochen. Erinnere dich!“
Vielleicht. Vielleicht auch nicht, lachte Varruk in ihren Gedanken.
Ein heißer Pfeil schoss durch Lalanas Kopf. Sie stöhnte auf.
„Weißt du es wieder?“
Sie nickte, noch immer stöhnend.
Varruk strich mit der Hand sanft über ihre Stirn. „Es tut mir leid. Ich weiß, wie groß dein Verlust ist und wie sehr du leidest. Aber ich habe auch für dich eine Aufgabe. Das wird dich ein wenig von deinem Kummer ablenken.“
„Welche Aufgabe?“ Lalanas Gesicht wirkte plötzlich grau und eingefallen, um viele Jahre gealtert.
„Du kannst in Findward bleiben, du liebst doch diese Gegend, nicht wahr? Achte auf den Jungen.“
Ein rosiger Hauch erschien auf Lalanas Wangen. „Yal Rasmon? Wer ist er?“
Varruk zuckte mit den Schultern. „Das ist nicht von Belang für dich. Er ist außergewöhnlich in jeder Hinsicht, du wirst aufpassen müssen.“
Lalanas Blick schweifte in die Ferne. „Er erinnert mich an Madryl“, murmelte sie.
„Das dachte ich mir. Nun – vielleicht könnte es dir Spaß bereiten, ihn nach deinem Willen zu formen. Doch sollte er seine Aufgabe deswegen nicht vergessen.“
„Du benutzt ihn als deinen willigen Diener, oder? Und du scheinst ihn zu kennen. Hast du ihn schon öfters mit irgendwelchen Aufgaben betraut?“
In Varruks gelben Augen erschien ein wachsamer Ausdruck. „Wie kommst du darauf? Er war einer meiner Schüler und hatte Schwierigkeiten, das ist alles.“
Lalana wich seinem Blick aus und hob die Hände. „Nur so ein Gedanke. Ich nehme an, es kommt daher, dass ich mich frage, woher du die Abbilder der Elementsteine hast. Ich wusste nicht, dass sie in deinem Besitz sind. Madryl hat mir ihr Versteck nicht verraten.“
Der alte Magier lächelte. „Nun, vielleicht hat es damit zu tun, dass ich ein Feuermagier bin und du nicht. Du solltest dir im Übrigen deinen schönen Kopf nicht über Dinge zerbrechen, die dich nichts angehen.“
Lalana schnappte hörbar nach Luft. „Du …“
Varruk schnitt ihr mit einer energischen Handbewegung das Wort ab. „Still. Du wirst deine Rache bekommen. Aber noch nicht jetzt.“
Ein Fauchen entwich der Wassermagierin. „Ich werde dich daran erinnern, Herr des Feuers, darauf kannst du dich verlassen!“
Sie wirbelte um ihre eigene Achse und verschwand in einer Gischt aus bläulichem Wasser.
Varruk wischte mit der Hand über seine Robe und dort, wo die Wassertropfen sie benetzt hatten, stiegen dünne Fäden aus Dampf auf.
Keine Angst, meine Schöne. Alles läuft so, wie es laufen soll. Das tut es immer. Ich sorge dafür.
Der junge Mann musterte Catherine intensiv. „Sind Sie sicher?“
Sie erwiderte seinen Blick ruhig und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. „Ja, genau das.“ Sie hielt noch immer das Blatt in der Hand, das aus dem Buch mit den Vorlagen für Tattoos gerutscht war. Das musste es sein. Sie konnte es noch immer fast nicht glauben, ihr Muster gefunden zu haben. Der Weg, der in Kreisen zur Mitte führte.
Der Tätowierer meinte zögernd: „Sie wissen, dass es schwierig ist, ein Tattoo wieder zu entfernen, falls es Ihnen nicht mehr gefallen sollte?“
Catherine wedelte ungeduldig mit der Hand. „Natürlich. Ich kann auch zu jemand anderem gehen, wenn Sie es nicht machen wollen!“
Er sagte hastig: „Schon gut. Ich wollte sie nur darauf hinweisen. Es ist übrigens ein starkes Symbol.“
Catherine sah ihn überrascht an. „Was bedeutet es?“
Der Mann lächelte. „Das Labyrinth. Sinnbild für den Weg des Lebens, wenn man es so möchte. Eigentlich weiß niemand so genau, was es bedeutet. Labyrinthe kommen in allen Kulturen vor, das Zeichen ist an die fünftausend Jahre alt. Es gibt mittlerweile viele verschiedene Formen. Das hier ist die Urform, das kretische Labyrinth.“ Er unterbrach sich, lächelte. „Entschuldigen Sie. Bei diesem Thema gerate ich gerne ins Schwärmen. Es fasziniert mich, seit ich begonnen habe, mich damit zu beschäftigen.“
Catherine legte den Finger auf das Papier, folgte den Linien. „Das ist seltsam. Man hat das Gefühl, sich dem Ziel zu nähern und sich dann wieder zu entfernen. Bis man doch die Mitte erreicht. Man hat gar nicht die Möglichkeit, sich zu verirren. Ich glaubte …“
„Die meisten Menschen denken an einen Irrgarten, wenn sie von Labyrinthen hören. Aber ich finde die ursprüngliche Form viel interessanter. Der Weg ist vorgegeben und ich weiß, dass ich mein Ziel mit Sicherheit erreiche, ohne Angst haben zu müssen, mich zu verlaufen.“
Catherine starrte nachdenklich auf das Muster. „Der Weg ist vorgegeben“, wiederholte sie. „Das klingt so nach Bestimmung, danach, dass man seinem Schicksal nicht entrinnen kann.“
Der Mann lächelte. „Man könnte es auch anders sehen. Labyrinthe schaffen einen Weg, der vorher nicht da war und ich habe die Möglichkeit, ihn zu gehen. Und ich kann ihn so gehen, wie ich es möchte, denn ich muss nicht darauf achten, ob er falsch oder richtig ist.“
Sie nickte stumm, hatte plötzlich das Gefühl, als hätte sich eine Tür für sie aufgetan. Eine Tür, hinter der etwas Neues, Aufregendes wartete.
Der Tätowierer sah sie an. Eine hübsche Frau eigentlich, vielleicht etwas zu blass und verhärmt, eine Touristin, wie sie jetzt im Sommer zu Hunderten Tintagel an der Südspitze von Cornwall überschwemmten. Und doch war irgendetwas anders an ihr. Eine tiefe, verzweifelte Traurigkeit begleitete sie, die nicht zu ihr passte, auch nicht hierher, in diesen friedlichen, kleinen Ort. Sie erwiderte seinen Blick fast trotzig und er lächelte. „Gut. Sie wollen also ein Labyrinth als Tattoo. Wie groß und wohin?“
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