Die Deutung ist nicht schwer. Rinda ist die winterliche Erdrinde; nach des Lichtgottes Baldur Tod ist die Erde dem wohltätigen Himmelsgott Odin entrückt. Vergebens bemüht dieser sich, sie für sich zu gewinnen; vergeblich bekämpft er tapfer die Winterriesen; vergeblich wirbt er um sie mit den goldenen Gaben des Sommers; vergebens zeigt er ihr die Lust kriegerischer Spiele, der schönsten Gabe der Sommerzeit; die Erde, die dem Liebesleben abgesagt, weist dreimal heftig den Freier zurück; die Versuche, des Winters Herrschaft zu brechen, scheitern. Da verflucht sie der Lebensgott für immer, dem Wintertode verfallen zu sein, falls sie ihn nicht erhöre; er wirbt um die erstarrte, indem er ihr die Füsse bespült (es ist wohl allzu kühn, hier an den Tauwind zu denken, der die Erdrinde in Tauwasser schmelzt; aber irgend ein ähnlicher Vorgang in täuschender Hülle und scheinbar ungefährlicher Gestalt liegt hier zu Grunde) und zwingt die immer noch Widerstrebende zuletzt mit Gewalt, sich dem Sieger zu ergeben und die Mutter zu werden des neuen Frühlings, der den im Vorjahr getöteten an dem Winter- und Nachtgott Hödur rächt. Ursprünglich bezog sich Baldurs Tod nur auf den jährlichen Untergang des Lichtes; erst später ward dies auf die Götterdämmerung bezogen, und nun konnte nicht mehr Baldur selbst jeden Frühling wiederkehren, – vielmehr erst in der erneuten Welt – sondern statt seiner ein Bruder, ein andrer Sohn Odins.
Wali war der Monat Liosberi (Lichtbringer; vom neunzehnten Januar bis achtzehnten Februar) geweiht, was die Grundauffassung voll bekräftigt. In diese Zeit fällt nicht nur Mariä Lichtmess (zweiter Februar), auch der Valentinstag (vierter Februar), der in England (Ophelia in Shakespeares Hamlet führt ein Volkslied darüber an), Nordfrankreich, Brabant ein Fest der Liebenden ist. An diesem Tage paaren sich nach dem Volksglauben die Vögelein, und auch die jungen Leute wählten oder erlosten für das kommende Jahr, halb im Scherz, halb im Ernst, ihren Schatz. Man hat nun Sankt Valentin als an Walis Stelle getreten gedacht, auch dieses Heiligen Namen auf einen zweiten Namen desselben Gottes: Ali, der Nährer, und einen dritten: Bui, der Bebauer, d. h. Erdbebauer, Ackerbebauer, auf Welo, Wolo (unsern neuhochdeutschen »Wohl«) zurückgeführt, d. h. einen Gott des Wohlergehens, Glückes, eines Liebesfrühlings. – Auch als guter Schütze wird Wali gerühmt; der Frühlingssonnengott entsendet die fernhintreffenden Pfeile wie Phöbus Apollon.
Ullr ist nach der echten alten Sage durchaus nicht ein von den empörten Göttern eingesetzter Gegenkönig Odins, sondern lediglich Odin selbst; nur ein winterlicher, statt des sommerlichen Odins. Nur der Sommer ist die Zeit für die Kriegsfahrten des Siegesgottes – ist er doch zugleich der allbelebende Allvater der sommerlichen Lebensfreude; im Winter ruhen wie der Krieg, so jenes warme Freudeleben; Odin ist fern, so scheint es. Aber er ist doch da; nur unter dem Namen »Ullr« und in winterlicher Vermummung. Jetzt gewährt der Schnee die Fährte des Wildes dem Weidmann; nun beginnt die Jagd; Ullr führt sie an, zum Schutz gegen die Kälte in Tierfelle gehüllt, seines Birschgangs Beute liefert ihm ja reichlich Pelzwerk, – mit Bogenund Pfeil, Schrittschuhe unter den Sohlen; – so verfolgt er behend über Schnee und Eis des Wildes Spur, ein Gott der Jagd; hierin ist ihm Sankt Hubert (Hukbert, der Geistglänzende) nachgefolgt. Er ist ein Sohn der Erdgöttin Sif, aber nicht von Thor; denn er wird geboren, wann die Gewitter noch ferne sind; sein Vater konnte füglich ungenannt bleiben, wenn Ullr = Odin ist. Sich selber meint daher Odin, wenn er, in König Geirröds Saal zur Folter zwischen zwei Feuer gesetzt, ausruft: »Wer die Lohe löscht, gewinnt Ullrs Gunst und aller Götter.« Im Sommer weilt dagegen Ullr in der Unterwelt, Odin auf Erden und in Asgard. Als winterlicher Gott hat Ullr auch die Schrittschuhe, vielleicht auch die Schneeschuhe erfunden; er besprach durch Zaubereinen Knochen so, dass er darauf über das gefrorene Meer fahren konnte; die Schrittschuhe wurden aus Knochen gefertigt; vielleicht aber liess ihn die Sage auf solchen breiten, schildähnlichen Zauberschuhen auch über flüssig Wasser schreiten. Dass er aber deshalb (warum? ein Schrittschuh ist doch kein Schild!) der »Schild-As« heisst (vergl. »der Schwert-As«), ist ebenso unwahrscheinlich, wie dass er deshalb im Zweikampf angerufen wurde, weil hier der Schild so wichtig gewesen sei! Vielleicht war als sein Schild die Eisdecke des winterlichen Meeres gedacht, und vielleicht heisst deshalb der (Eis-) Schild »Ullrs Schiff«, weil der Wintergott, statt auf einem Schiff, auf dem Schilde des Eises das Meer überschreitet. Allein das sind lauter allzu kühne, wenig befriedigende Vermutungen.
Widar heisst »der schweigsame As«; nur allzu sehr verdient er diesen Namen; denn er schweigt auch uns gegenüber; die Forschung müht sich fast ganz vergeblich, ihn zu erklären. Doch wird man »Widar« als den »Wiederer«, d. h. den Wiederbringer und Erneuerer fassen dürfen; er ist es, der seines Vaters Odin Fall an dem Fenriswolfe rächt, und er ist es, der neben Wali, dem Rächer Baldurs, vor allen andern als in der erneuten Welt fortlebend ausdrücklich genannt wird; er rächt den Allerhalter an dem Allverderber; er erneut die Welt. Vielleicht war seine Naturgrundlage die jährliche Wiedererneuerung des Lebens der Natur im Frühling, bevor noch die Weltvernichtung und Welterneuerung ausgebildet war; als diese Lehren aufkamen, ward aus dem jährlichen Erneuerer der endgültige Wiederbringer. Weil er auch das Grün der Erde wiederbringt, – alljährlich und in der grossen Erneuerung – mag es von ihm heissen: »Gesträuch grünt und hohes Gras in Eidars Landwidi« (Landweite, Gebiet), was auf beide Arten von Erneuerung passt. Dass er dereinst den Fenriswolf erlegen wird (und zwar in welcher Weise), verkündet die Weissagung: er werde »dem Wolf die kalten Kiefer klüften« (s. unten Buch III, II). Und zu dieser Bedeutung Widars als des Rächers und Wiederherstellers der Götter stimmt es auch trefflich, wenn es heisst: »Auf Widar vertrauen die Götter in allen Gefahren.« Stumm und abgeschieden wohnt er in der Einöde, bis er hervorschreitet, des hohen Vaters Tod zu rächen.
Wir sahen bereits, dass Odins eine Bedeutung als Gott der Dichtung aus seinem Wesen ausgelöstund in seinem Sohne Bragi, als einem besondern Gott der Dichtung, wiederholt, selbständig persönlich gemacht wird. Wir wissen nur sehr wenig von diesem: »Er ist gefeiert wegen Wortgewandtheit und Wohlredenheit und geschickt in der Skaldenkunst, die nach ihm Bragr heisst; auch werden Leute, die redegeschickter als andre, Bragurleute genannt. Seine Gattin Idun bewahrt in einem Gefässe jene Äpfel, welche die Götter geniessen, wann sie altern; denn davon werden sie alle (immer wieder) jung und mag das so dauern bis zur Götterdämmerung«.
Es verstösst nun gegen alle Erfahrung über Entstehung von Göttern und Göttersagen, mit der herrschenden Auffassung anzunehmen, in der verjüngenden Kraft dieser Äpfel sei die »verjüngende Kraft der Dichtung« gefeiert! Nein! Solche Gleichnisse einer wissenschaftlichen Kunstlehre, wie sie ein Dichter-Philosoph überfeinerter Bildung anstellt, liegen den unbefangenen Anschauungen der Urzeit fern. Vielmehr verrät eine Stelle, welche Idun mit Gerda für eins erklärt, dass diese verjüngenden Äpfel die in jedem Frühjahr sich verjüngende Lebenskraft der Erde sind; jeden Herbst dämmern die Lichtgötter, jedes Frühjahr verjüngen sie sich wieder durch die verjüngte Lebenskraft der Erde; daher währt diese verjüngende Wirkung auch nur bis zur Götterdämmerung, vor deren Vollendung bereits das Wiederkehren des Frühlings aufhört. Erst folgeweise und später hat man dann auch die mit dem Frühling wieder beginnende Liebeslust in jenen Äpfeln gefunden und deren Eignerinmit dem Liedgott vermählt.
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