Die Entfernung zur künstlichen Bewässerung bestimmte ausschlaggebender den Armutsgrad als die Quadratmeterzahl des Besitzes. Ganz unten am Ende des Tales, dem Rand des Wüstenstreifens, wurde an die Ärmsten verpachtet. Niemand dort konnte es sich leisten, beim Busfahrer, der täglich zweimal vorbeifuhr, Medikamente zu bestellen, die er dann aus dem nächsten größeren Ort, der über eine spärlich eingerichtete Apotheke verfügte, mitbrachte. Gegen Vorauszahlung und einen kleinen Aufpreis für den Transport. Nicht selten starb hier ein Kleinkind an einer Erkältung.
Karl hockte im Nachmittagsschatten auf einem Felsvor-sprung des östlichen Berghanges, weit oberhalb des Flusstales. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf, sie eilten einer Lösung entgegen. Eilen, beinhaltet nicht das Ankommen, zuerst einmal musste er wieder ganz gesund werden. Mit Luz del Mar war er keinen Schritt von der Stelle gekommen, ganz zu schweigen von einem Liebesakt. Das konnte er vorerst sowieso vergessen, ganz gleich mit wem, zumindest nicht, wenn er sich aktiv mit den üblichen Bewegungen daran hätte beteiligen müssen.
Er wollte sich dem ärztlichen Rat widersetzen und früher als empfohlen wieder zurück an seine Arbeit gehen. Man brauchte ihn jetzt auf der Baustelle, schließlich war er verantwortlich für die Schüttung und fachgerechte Verdichtung des Staudamms, die dringend von ihm beaufsichtigt werden mussten. Ein nächster Bauabschnitt und die Hauptumleitung des Flusses sollten morgen beginnen. Er war während seines Aufenthaltes im Hospital, unzählige Male am Tag, per Telefon um Rat gebeten worden. Er musste sich unbedingt wieder ein eigenes Bild von der Lage verschaffen. Vielleicht wäre es auch besser, er würde nicht den ganzen Tag in ihrer Nähe herumschleichen, nach ihr und jedem ihrer Worte schmachten.
Nach seinem neugierigen Drängen, woher sie medizinische Fachkenntnisse habe, hatte er von ihr erfahren, dass sie von Milzrissen, Rippenbrüchen oder ähnlichen Diagnosen keine Ahnung hatte, nicht einen Funken Ahnung.
Vor einigen Jahren sei ihr Onkel, beim Aufhängen einer Lampe in der Kirche, von einer Leiter gefallen. Dass es sich dabei um den Pfarrer ihres Dorfes handelte, hatte sie nicht erwähnt. Dieser Mann, den sie Onkel nannte, hatte stöhnend auf dem Boden gelegen und konnte kaum atmen. Luz del Mar war noch ein Kind gewesen, sie hatte Angst um ihn gehabt und um Hilfe geschrien. Kurz darauf kam ihre Mutter angerannt, die Menschen sammelten sich vor der Kirche und trauten sich nicht in die Nähe des Kindes, da sie sicher waren, dass dieses Unglück ihr zuzuschreiben war. Ihre Mutter hatte per Telefon einen Arzt verständigt. Viele Stunden hatte der Verunglückte dort auf dem kalten Boden gelegen, bis der Arzt schließlich eintraf, sein Stereoskop herausholte und die schwerfälligen, kurzen Atemzüge des Pfarrers prüfte, er tastete besorgt seinen Leib ab und war flugs ins Pfarrhaus zum Telefon geeilt, eines der wenigen Telefone des Dorfes. Die kleine Luz war dem Arzt hinterher geschlichen und hatte gehört, wie er einen Rettungswagen anforderte und dazu in den Hörer brüllte: Zwei Rippenbrüche und wie es aussähe auch ein Milzriss, sie sollten sich beeilen, innere Blutungen seien nicht auszuschließen.
Das sei bisher ihre einzige Begegnung mit einer ärztlichen Diagnose, hatte sie ihm lachend gestanden. Er war glücklich gewesen, dass sich danach ein richtiges Gespräch ergeben hatte.
Während Karl seinen Blick über die sanften Terrassen der Reispflanzungen wehen ließ, wurde ihm bewusst, dass er diesen Ort und die Landschaft zu mögen begann. Vor seinem Unfall war ihm die Schönheit gar nicht aufgefallen, und erst seit er jeden Tag hier im Schneckentempo spazieren ging, nahm er auch den Reiz der Stille wahr. Weite Farbfelder in ihren leuchtenden Grüntönen, malten eine zuvor unbemerkte Lieblichkeit zwischen die angrenzende, dunkelgraue Gerölllandschaft. Die Reisfelder und Mangohaine wurden von den Geröllausläufen, des fast schwarzen Gesteins der Berge, kontrastreich gesäumt.
Mit Hilfe von trägen Wasserbüffeln und Pfluggerät aus der Steinzeit wurden mühsam die Furchen in die noch feuchte Erde der Felder gezogen. Weiße, schlanke Reiher stelzten hinter dem Pflug her, flogen auf, flatterten schwerfällig um dieses Gespann oder zankten sich um Wurm- und Echsengetier. Hier sollte auch in dieser Saison, wie alle erdenklichen Jahre zuvor, der Reis gedeihen und etwas weiter oberhalb, auch Yucca, Mais und Hirse.
Karl blinzelte den silbernen Flussfaden entlang und wusste, dieses mühselige Pflugergebnis dort unten, dieses Idyll zwischen Mensch und Landschaft, würde am Montagabend nächster Woche verschluckt sein. Es würde überrollt, planiert, verschoben, aufgehoben sein, unwiederbringlich, wenn die Arbeit eines einzigen Tages zahlreicher Sprengungen, Lastwagen, Caterpillars und Bagger beendet sein würde. Warum war dieser Bauer nicht benachrichtigt worden?
Karl ärgerte sich, dass ihn das störte. Warum sorgte er sich um die verlorene Mühe eines ihm unbekannten Kleinbauern? Hier am Ende der Welt, im Norden Perus, wenige Stunden Fahrt zur Grenze nach Ecuador. Wieso bedauerte er den Untergang einer Landschaft, die ihn nichts anging?
Er war leitender Angestellter einer deutschen Baufirma, die hier ihren Auftrag ausführte. Das alleine ging ihn etwas an, schließlich war ja dieses Projekt ins Leben gerufen worden, um den Wasserhaushalt dieser Gegend zu regulieren. Was gab es da zu bedauern. Und doch, er bedauerte es.
Er hätte gerne mit Luz del Mar darüber gesprochen. Was hielt sie davon, ihre Heimat erst einmal für viele Jahre, vielleicht mehr als ein Jahrzehnt, verunstaltet und verändert zu wissen. Er wusste, dass Abgesandte der Regierung durch die Dörfer gezogen waren, als Aufklärer und Boten des Fortschritts. Der Staudamm brächte nur Gutes, wurde behauptet. Die nötige Berechenbarkeit und Eindämmung der Niederschläge, dann gäbe es auch keine unkontrollierbaren Zerstörungen mehr. Genug Wasser würde trotzdem zur Verfügung stehen, das ganze Jahr über, es gäbe dann keine Dürrezeiten für die Anbaugebiete mehr. Dafür allerdings, musste man erst einmal Einiges zerstören, doch das erwähnten sie nicht. Die meisten Bauern waren skeptisch. Einige, die lesen und schreiben konnten, hatten andere Informationen. Hunderte von Häusern, ganze Dörfer, hieß es, die oberhalb in der Nähe des Damms lagen, würden für immer in dem Stausee verschwinden. Ausradiert, die Kirche unten im See, der Dorfplatz und das Heim.
Das war für die meisten Dörfler unvorstellbar, man munkelte von Zwangsenteignungen und Umsiedlungen, die bei anderen Dammbauten getätigt worden waren. Die Familien kämen in Notunterkünfte. Die Entschädigungen wären zu gering, um damit neues Land zu erwerben. Der Löwenanteil der genehmigten Soles für die Umsiedler, verschwand in korrupten Händen, das war bekannt. Preise stiegen in die Höhe, und einige Wenige bereicherten sich an der Armut.
Trotzdem, der Widerstand war gering, man glaubte nicht so recht an die Propaganda der Staudammgegner. Es war alles so unvorstellbar. Wohin mit dem Büffel in einer Notunterkunft in der Stadt? Am besten, man wartete ab. Wie immer.
Das neue Flussbett des „Jeque de Peque“ war schon geschoben worden, man setzte zur letzten Blockade des alten Flusslaufes an. Dieser natürliche Lauf versiegte wie geplant, das Wasser schob sich Kilometer, weit entfernt von den Feldern, durch nicht kultiviertes Gebiet. Die künstlichen Kanäle wurden nicht mehr gespeist, sie versiegten und die Felder vertrockneten. Die erste Ernte war hinüber. Die erste von vielen.
Diese Umleitung entzündete unter den Einheimischen große Empörung und erste ernstzunehmende Unruhen gegen das Camp. Man verstand den langfristigen Werdegang nicht. Natürlich war eine Umleitung nötig. Es mussten Bohrungen für die Schlitzwand des Dammes im relativ Trocknen vorgenommen werden, um viele Millionen Kubikmeter Erde zu einem Damm aufschütten und mit Dampfwalzen verdichten und befahren zu können, ohne das störende Flusswasser. Später, in etwa zehn, vielleicht erst fünfzehn Jahren, würde man diese Umleitung wieder aufheben. Der „Jeque de Peque“ bekäme dann seinen alten Lauf zurück, und das Flusstal unterhalb des Dammes sollte wieder mit Subventionen aus Lima rekultiviert werden. Daran glaubte Karl allerdings nicht.
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