Inzwischen hatte man einen Teil der Bauern als Hilfskräfte auf den Baustellen eingesetzt. Das gehörte mit ins Programm. Die Poliere murrten, die Verständigung war mangelhaft. Man beleidigte die dunkelhäutigen Männer in deutscher Sprache, sie wurden ständig als faul und undiszipliniert beschimpft. Sie wurden Kulis und ihre Felder zu Steinwüsten, ihre Töchter und Schwestern zu willigen Putzfrauen oder Huren der Camp-Bewohner. Oder sie wurden beides. Doch sie verdienten Geld, welches sie vorher nicht besaßen, es war wenig, aber mehr als jemals zuvor. Jene, die keine Anstellung bekamen, mussten entweder betteln, verhungern oder ihre Heimat verlassen und in die Slums der Städte ziehen, in eine andere Welt.
Es wäre kein großer Aufwand gewesen, mit den zahlreich zur Verfügung stehenden Maschinen, den neuen Flusslauf so zu legen, dass die Felder mit neuen Kanälen versorgt, trotzdem an ihre Bewässerung gelangt wären. Doch das hatten die Planer nicht in Betracht gezogen. Ein Kostenpunkt mehr, wo er nicht unbedingt nötig war?
Man richtete sich nach den Plänen, die in den Stadtbüros angefertigt worden waren, meist ohne Ortsbesichtigung, aus der Vogelperspektive am Zeichenbrett. Gerade Striche, kurz und bündig, die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht bedacht, der Ärmsten schon gar nicht. Also trocknete die ganze Gegend aus und versank im Getriebe des Dammbaus.
Wo gehobelt wird, und so weiter, dachte Karl, und versuchte sich zu beruhigen. Doch dieses Baugetöse, das immerhin seine Anwesenheit an diesem Platz der Erde rechtfertigte, übernahm von nun an die Geräuschkulisse des ganzen Tals, erstickte mit seinem Lärm, des Tag und Nacht in vollem Einsatz stehenden enormen Fuhrparks, die Empfindlichkeit der Stille und überflutete die Reisterrassen anstatt des Wassers. Vielfach gab sich das Echo die Hand und hallte gegen die Bergwände im Zick-Zack das Flusstal hinunter. Karl war in den letzten Wochen viele Male auf den Berg geschlichen und hatte das Gefühl gehabt, hier oben die nötige Kraft und einen Überblick für sein Leben zu bekommen, zu gesunden. Dem war nun ein Ende gesetzt. Zumindest von diesem Platz aus. Obwohl das Camp einige Kilometer von der Quelle des Getöses entfernt lag, hörte man dort das ununterbrochene Geräusch der Motoren und bei Westwind auch das Fiepen der Maschinen, die in den Rückwärtsgang schalteten.
Für Luz war anfangs im Bau-Camp alles neu gewesen, doch eigenartigerweise erschienen ihr die Menschen hier weniger fremd als die ihres Dorfes. Hier traf sie in dem kleinen, von der Camp-Leitung errichteten Kaufladen, der hauptsächlich aus Europa eingeflogene Bestände anbot, auf Frauen mit hellen Augen. Nicht wie ihre Augen, doch sie waren hell, und sie fühlte eine nie gekannte Verbundenheit mit diesen deutschen Frauen, obwohl sie deren Passion zum Putzen lächerlich fand. Nun war es Luz, die gierig den Menschen in die Augen sah. Blaue, grüne, graue. Sie blieb oft stehen, lächelte die Frauen an und fühlte sich nicht mehr ausgeschlossen. All das, nur wegen der Augenfarbe? War das nicht kindisch?
Im Süden Perus, mehr als tausend Kilometer entfernt, in der „Codillera Vilcanota“ in dreitausend Metern Höhe, nahe dem Quellgebiet des Urubamba, fünfzehn Tagesmärsche nordöstlich von Cuzco, hätten fast alle Menschen ihre hellen Augen.
Mit diesen Worten hatte ihre Mutter sie getröstet, wenn sie sich als Kind nach dem Grund ihrer andersartigen Augenfarbe erkundigt hatte. Sie hatte sich nach diesem Ort, an dem die Großeltern und viele Verwandte lebten und auch die Gräber der Ahnen waren, gesehnt. Dort würde man sie nicht wie eine Außerirdische behandeln. Sie irrte sich gewaltig.
Warum lebe ich hier, hatte die kleine Luz oft gefragt, da sie doch hier nicht geboren war und ihre Wurzeln in weiter Ferne hätte. Aber schon wenig später wollte sie gar nicht mehr weg vom „Jeque de Peque Tal“, denn das hätte bedeutet, den Pfarrer zu verlassen. Der Pfarrer hatte sie immer zu beruhigen versucht, man sei dort zu Hause, wo man aufgewachsen ist. Und natürlich bei Gott. Er erwähnte als Beispiel die Tatsache, dass zahllose Menschen auf Reisen, oder auf Schiffen mitten auf dem Ozean geboren würden. Sei dann etwa das Meer ihr zu Hause? Nein, dort wo sie aufwüchsen und erzogen würden, dort sei ihre Heimat, und in ihrem Herzen. Aber das sei eine andere Sache, die er ihr einige Jahre später erklären würde.
Trotzdem, Luz fühlte sich immer noch schmerzhaft fremd in ihrem Dorf, das konnte nicht nur an ihrem Haar und der Augenfarbe liegen. Ihre Mutter hatte sie schon frühzeitig dazu angehalten ihr rotes Haar sorgsam zu bedecken, zu verstecken und den Blick zu senken, um zusätzliches Gespött zu vermeiden. Rotes Haar, Jesus María, das arme Kind!
Luz del Mar begann sich im Bau-Camp wohlzufühlen. Es war etwas Neues, etwas Wohltuendes, nicht mehr auffallend anders auszusehen, denn auch ihre Hautfarbe glich nicht der einer Peruanerin aus den Pueblos. Es half ihr, bei der Kontaktsuche mit den Señoras, dass sie Englisch sprach, denn die meisten Frauen verstanden kein Wort spanisch. Sie vermied Gespräche mit Männern, und wenn sie in dem kleinen Laden wartete, lauschte sie den Wortgefechten der deutschen Frauen untereinander. Die Worte klangen wenig fremd, beinahe vertraut, und einige Sätze verstand sie nach kurzer Zeit sogar.
Sie beschloss Deutsch zu lernen, aber der Ingeniero hätte bestimmt zu wenig Zeit, um den Lehrer zu spielen. Sie würde ihn trotzdem fragen. Leider musste sie sehr bald feststellen, dass die Damen sich mit dem Hauspersonal nur über das Nötigste unterhielten und wenn, dann nur von oben herab. Trotzdem war sie glücklicher, hier ihren Tag zu verbringen als sie es jemals in ihrem Dorf erlebt hatte. Am liebsten aber, war sie allein. Sie unternahm oft nächtliche Wanderungen durch die menschenleere Landschaft, besonders in der Woche des zunehmenden Mondes. Sie stellte sich vor, dass es schon immer so gewesen sein könnte, seit Beginn aller Zeiten. Sie es, mit dem Schon-Immer-So zu empfinden. Sie hatte keine Angst vor oder in der Einsamkeit, sie vergaß sich einfach und liebte es, in dieser Abwesenheit von sich selbst zu verharren. Sie blieb stehen, horchte und fühlte. Luz konnte stundenlang in der Höhle der Wurzel eines umgestürzten Baumes sitzen und mit ihm in Kontakt treten. Oder sie schlief in dieser Kuhle ein, mit dem Finger auf dem Nabel, bis „el rocío“, der Morgentau, sie weckte. Sie nippte dieses Nass von den harten Blättern, bewegte sich in gleichmäßigen, lautlosen Lauf zurück ins Pfarrhaus, zog sich um und marschierte in die entgegengesetzte Richtung ins Camp, an ihren Arbeitsplatz.
Diese nächtlichen Ausflüge blieben lange Zeit vor der Dorfbevölkerung verborgen, doch eines Nachts wurde sie von Wilderern, die versteckt auf der Lauer gelegen hatten, beinahe erschossen. Ein willkommener Gesprächsstoff, der bis ins Bodenlose ausgeschmückt wurde. Man hatte sie sogar mit den Schwefel-Elfen tanzen sehen, bevor man sie beinahe für ein Wildschwein hielt.
Von nun an, war sie den Einheimischen noch unheimlicher. Es gab Stimmen, die der Meinung waren, es wäre nicht schlecht gewesen, sie wie einen tollen Wolf „aus Versehen“ abgeknallt zu haben. Dann hätte der Spuk endlich ein Ende gehabt. Diese Meinung drang jedoch nicht bis an die Ohren des Pfarrers. Was machte ein junges Mädchen nachts, weit vom nächsten Dorf entfernt, allein in den Bergen? Da wurde doch ohne Zweifel etwas Teuflisches ausgeheckt. Selbst die Männer strolchten nicht nach dem Dunkelwerden dort allein herum. Sie jagten immer gemeinsam, mindestens zu dritt, dann konnten zwei, den eventuell Verletzten tragen.
Luz del Mar bekümmerten diese Vorwürfe, die ihre Mutter ihr zugetragen hatte, schon lange nicht mehr. Jeden Morgen erschien sie gut gelaunt und pünktlich im Bau-Camp, die Hausarbeit erledigte sie schnell und ordentlich und wusste zu schätzen, dass sie niemand dabei beaufsichtigte. Dieses Glück hatten ihre Kolleginnen nicht, diese putzten unter ständigem Gezeter der zuständigen Hausfrau.
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