Joachim ging zum Schlafzimmer. Er öffnete die Zimmertür einen Spalt und sah Daniel in der Mitte des Ehebettes auf dem Rücken liegen. Die Gesichtszüge des kleinen Jungen waren entspannt. Er schlief tief und fest. Einen Augenblick lang verharrte Joachim und betrachtete seinen Sohn, dann zog er leise die Tür wieder zu.
»Und?« Carola stand einen Schritt hinter ihm, hatte jedoch keinen Blick auf das schlafende Kind geworfen.
»Schläft, als könnte er kein Wässerchen trüben.«
»Und was ist mit deinem Angebot?«
»Mit welchem Angebot?«
»Mit dem Angebot, dass ich mir heute eine Auszeit gönnen soll.«
»Oh ... – das steht natürlich.«
»Prima«, sagte sie und lächelte keck, »dann geh ich jetzt mal ganz gepflegt weg.«
»Was hast du vor?«
»Shopping. Läuft auf Schuhkauf hinaus.«
»Noch ein weiteres Paar?«
»Es geht nicht um die Schuhe. Was zählt, ist die therapeutische Maßnahme.«
»Ah, verstehe.«
»Daniel muss um fünf Uhr sein Gläschen Essen bekommen. Es steht neben der Spüle.«
»Das weiß ich doch alles.«
»Sollte ich noch nicht zurück sein, wenn Niklas nach Hause kommt, dann frage ihn bitte, ob er Hunger hat, und …«
»Ich habe die Dinge hier im Griff«, unterbrach er. »Unsere Jungs und ich werden nachher eine Kiste Bier vernichten und einen Porno gucken - du kannst dir also Zeit lassen, du würdest bloß stören.«
»Wow, das klingt gut!«
»Das wird gut«, sagte er liebevoll. »Und nun hau ab, na los, mach schon!«
Lächelnd schlüpfte Carola in ihre offenen Schuhe, setzte ihre Sonnenbrille auf und schnappte sich ihre Handtasche, hob die Hand zum Gruß und verließ mit betont aufreizenden Gang die Wohnung.
Drei Stunden später schlief Daniel noch immer. Es schien tatsächlich so, als ob er einiges an verlorenem Schlaf nachzuholen hätte. Joachim warf noch einen Blick auf seinen Sohn, dann lehnte er die Schlafzimmertür an und ging ins Badezimmer. Dort nahm er die Wäsche aus dem Trockner und ließ sie in den Wäschekorb fallen, legte sie dann, nach Zimmern und Schränken geordnet, in kleinen Stapeln zusammen. Er brachte Niklas’ Kleidungsstücke in dessen Zimmer und verstaute sie in den entsprechenden Fächern und Schubladen. Dann schnappte er sich Daniels Sachen.
Als Joachim Daniels Zimmer betrat, sah er, dass das kleine Bett nicht gemacht war. Er verstaute die Wäsche in dem bunten Schrank, ging zum Kinderbett, strich das Fell glatt und stellte die beiden umgekippten Stofftiere, einen Teddybären, den seine Mutter Daniel geschenkt hatte, und einen Elefanten, ein Geschenk seiner Schwägerin, wieder auf. Er schüttelte das Kissen, das Daniel als Bettdecke diente, kräftig aus. Dabei stieß er versehentlich gegen das Mobile. Erschrocken fuhr er zusammen und sah an die Zimmerdecke. Die Holzfiguren tanzten wild hin und her, und die Holzkugel kreiste in bizarren Bewegungen eine Handbreit über seinem Kopf. Joachim griff nach dem Mobile und bekam eine der hüpfenden Figuren zu packen, mit der anderen Hand beruhigte er den Tanz der Holzkugel. Die Figuren sprangen noch immer irrwitzig auf und ab, so dass Joachim jede Holzfigur kurz festhielt, bis die unkontrollierten Bewegungen der Holzfiguren sich allmählich auspendelten. Die letzte Figur hielt er länger fest. Er drehte sie zwischen den Fingern und betrachtete sie. Die ovalen Kugeln, die den Körper bildeten, waren rot-weiß gestreift. Die schwarze Farbe auf dem kleinen, runden Kopf war kräftig und zeigte deutlich den vollen Schopf, den Mund, die Nase und ein Auge.
Ein Auge?
Joachim stutzte. Tatsächlich. Diese Holzfigur hatte nur ein Auge, nur das rechte. Den dünnen Pinselstrich für das linke Auge hatte man vergessen.
Joachim ließ die Figur vorsichtig los. Einen Moment lang sah er den Holzfiguren bei ihrem leichten Tanz zu, dann verließ er das Zimmer.
*
Der Mann hatte die Gewissheit, dass er in weniger als dreißig Minuten sterben würde. Wie kaum anders zu erwarten, hatte der Gouverneur von Texas das letzte Gnadengesuch des Pflichtverteidigers abgelehnt.
»Nun ist es also soweit«, sagte der hünenhafte Farbige mit fester Stimme. Er saß auf der Pritsche in einer Einzelzelle, die während der vergangenen elf Jahre sein Zuhause gewesen war. Obwohl in seinen Augen ein Tränenfilm stand, wirkte er gelassen und vollkommen in sich ruhend.
»Ich habe keine Angst, Reverend Father. Ich habe während der vergangenen Jahre stets alleine gebetet, und das möchte ich bis zuletzt tun. Bitte sprechen Sie das Vaterunser, wenn es soweit ist.«
Der Geistliche nickte gütig.
»Gott, der Herr, ist der einzig wahre Richter, nur sein Urteil entscheidet. Gott kennt die Wahrheit und daher weiß ich, dass das Urteil über mich gut ausfällt. Das Tor zu Gottes Himmelreich steht für mich weit geöffnet.«
»Du bist stark, mein Sohn.«
»Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem soll ich mich fürchten?«
»Psalm 27. Amen.«
»Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir. Schaue nicht ängstlich umher, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ja, ich helfe dir.«
»Jesaja 41,10. Amen.«
»Es ist meine Lieblingsstelle in der Bibel, Reverend Father. Dieser Psalm wird mein einziger Gedanke sein, wenn der Strom durch meinen Körper gejagt wird.«
Nun nahm er die abgestoßene Bibel in die Hand, das einzige Buch, das sich seit all den Jahren in seiner Zelle befand, und sagte: »Wissen Sie, Revend Father, als ich damals hierher kam, war mein Glaube schwach. Ich habe gebetet, wenn ich Angst oder Ziele hatte, aber echter Glaube ist mehr als sich bloß dann bittend an Gott zu wenden, wenn man aus egoistischen Motiven heraus etwas von ihm einfordert. Kurz nach meiner Verurteilung hat der Vater des Mädchens mir diese Bibel geschickt. Es ist eine von jenen Exemplaren, die von christlichen Vereinigungen in Hotels und Krankenhäusern und woanders ausgelegt werden, um die Heilige Schrift kostenlos zu verbreiten. Er hat etwas reingeschrieben, hier, lesen Sie selbst, es steht gleich vorne.«
Der Geistliche nahm die Bibel und schlug sie auf. In leserlicher Handschrift stand dort: Ich werde dir niemals verzeihen können. Dennoch wünsche ich dir nicht die Dunkelheit, sondern das Licht. Für dich ist es wichtiger, dass Gott dir vergibt als dass ich dir verzeihe. Finde deinen Frieden. F.W.
Der Geistliche reichte die Bibel zurück und sagte: »Ein starker Mann. Es dürfte ihn viel Kraft gekostet haben, dir diese Zeilen zu schreiben.«
»F.W. stellt Gottes Gnade über seinen eigenen Hass. Er glaubt, dass ich seine Tochter umgebracht habe und verschwinden ließ, alle glauben das oder wollen es glauben, und der ganze Prozess war von Anfang an so angelegt, dass am Ende mein schwarzer Kopf rollt. Vielleicht hat F.W. Befriedigung verspürt, als das Urteil gesprochen wurde, vielleicht sogar Freude. Vielleicht wird er heute unter den Augenzeugen sitzen und es als gerecht empfinden, dass der Strom meinen Körper zerreißt. Aber die Widmung in der Bibel zeigt, dass er dennoch ein Mensch der Hoffnung ist. Ich wünschte mir, ich könnte ihm sagen, dass ich große Achtung vor ihm habe.«
»Ich werde es ihm bestellen, sofern du es möchtest, mein Sohn.«
»Dafür wäre ich Ihnen vom ganzem Herzen dankbar, Reverend Father.«
Der Geistliche nickte knapp.
Der Verurteilte küsste die Heilige Schrift und sagte leise: »Gott, der Herr, weiß, was mit dem kleinen Mädchen passiert ist. Er weiß, wer sie verschwinden ließ und was mit ihr geschehen ist, was ihr angetan wurde. Auch ich werde es bald erfahren, denn im Himmelreich gibt es keine Geheimnisse. Oder, Reverend Father?«
»Nein, die gibt es dort nicht.«
Der Verurteilte lächelte selig, seine Augen leuchteten. »Bitte lassen Sie mich nun allein, Reverend Father, ich möchte beten, bis ich abgeholt werde. Vielen Dank für Ihren Besuch, es war schön, noch einmal mit einem Menschen aus der Welt dort draußen zu reden.«
Читать дальше