So geschah es. Die R’s saßen in einem der Gästezimmer und lasen den Stern und die Tageszeitung. Die Tochter war in der Tat müde und in ihrem Beistellbett rasch eingeschlafen. Die G.’s hatten pünktlich um acht Uhr den Herrn Chef mit Gattin und Töchterchen in ihr Haus gebeten. Der Tisch war mit edlem Linnen, Rosenthalporzellan und WFM-Besteck gedeckt und mit Blumen geschmückt, zu denen sich nun der Strauß gesellte, den der Chef G’s Frau überreicht hatte. Das Essen fand in der großen Halle im Erdgeschoss statt, die Teil des Wohn-Koch-Bereichs war, während die Schlaf- und Gästeräume im ersten Stock lagen, die durch eine großzügige Galerie miteinander verbunden waren. Es war in der Tat ein extraordinäres, ja ein durchaus repräsentatives Haus, das sich G. in der Gewissheit auf Beförderung und Gehaltserhöhung und unter Aufnahme beträchtlicher Schulden geleistet hatte. Aber er hatte ja eine sichere Stelle und war deshalb für die örtliche Bank ein höchst genehmer Kunde. Wenn die R’s die Tür des Gästezimmers leise öffneten, rochen sie den verführerischen Duft von Lammbraten und Minzsoße und hörten das muntere Geplauder der Abendgesellschaft, wobei der Gastgeber mit seinem lautstarken Schwadronieren bei Weitem dominierte. Am Anfang vernahmen sie auch noch das Geplapper des Cheftöchterchens, das aber bald verstummte. Dieses Mädchen von vielleicht zehn, zwölf Jahren war überraschend mitgekommen. Wenn man das früher gewusst hätte, stellte G. bei der Begrüßung bedauernd fest, hätte man vielleicht auch noch für die eigenen Kinder mit gedeckt. Aber die waren dafür noch zu klein und schliefen bereits. Ob G. in diesem Moment ein wenig bedauerte, R.’s Tochter, die fast gleich alt war, nicht zur Verfügung zu haben, sei dahingestellt. Jedenfalls musste sich das Cheftöchterlein allein mit den doofen Erwachsenen vergnügen.
Der Abend hätte friedlich und schiedlich enden können, wenn nicht R. dringend auf die Toilette gemusst hätte und das kleine Mädchen von großer Langeweile geplagt gewesen wäre. Am Riesling hatte es sicher nicht gelegen, aber möglicherweise hatte der rustikale Wurstsalat schon einen Stick gehabt. R. schlich sich jedenfalls über die Galerie in Richtung Badezimmer und wagte nicht, nachdem er sein Geschäft erledigt und sein Wohlbefinden zurückgewonnen hatte, die Wasserspülung zu betätigen, um keine Aufmerksamkeit auf die klandestinen Mitbewohner zu richten. Fast nackt, nur in einer Miniunterhose anstelle eines Pyjamas, war er auf dem Weg zurück in das rettende Gästezimmer, als er eine kleine Gestalt die Treppe heraufkommen sah. Schnell versteckte er sich hinter einer mächtigen, üppigen Yuccapalme, einem ungeliebten und daher hierher verbannten Geschenk der Eltern oder Schwiegereltern zum Einzug in das neue Haus.
Während R. mit seiner Verdauung kämpfte und schließlich einem natürlichen Drang nachgehen musste, hatte sich im Stockwerk darunter die Lage verändert. Nach der erlesenen Vorspeise und dem höchst erfolgreichen Hauptgang hatte die Frau des Chefs angeboten, bei der Zubereitung des Nachtischs, frisches Limettensorbet mit raffinierter Schokosauce, behilflich zu sein. Sie kamen sich bei dieser anspruchsvollen Küchenarbeit durchaus näher und konnten für eine strategisch wichtige Weile, das Wohnzimmer den beiden Männern überlassen, denn diese sollten sich ja auch nahe kommen, das war schließlich der Sinn und Zweck der Einladung. Und sie kamen sich näher. G. war zur Höchstform aufgelaufen, erläuterte seine Pläne, Ideen, Strategien, Visionen. Der Chef war angetan. Ei der daus, was für ein Potential schlummerte da in seiner Abteilung, was für ein Eisen, das man nur richtig schmieden musste, um es bei Bedarf als scharfe Waffe einsetzen zu können. G. redete und redete, holte sich einen Schreibblock, um seine Gedanken zu veranschaulichen, schenkte Bordeaux nach und schloss aus dem wohlwollend aufmerksamen Verhalten seines Vorgesetzten, dass er auf dem richtigen Weg war. Die Leidtragende, ja die Verliererin des Abends war das Töchterchen, ein munteres Ding voll Tatendrang, das sich allein unter den Erwachsenen fürchterlich langweilte. Erst das grässliche Essen, dann die endlosen, unverständlichen Gespräche, Mama weg, Papa auch irgendwie weg, obwohl er am Tisch saß. Sie streifte durch die Halle, schaute hier hin und da hin und stieg schließlich unbemerkt die Treppe hoch, um in unbekannten Gefilden weiterzuforschen. Ein Ding war schon mal ganz interessant, ein großer Baum, mitten in einer Wohnung, im Halbdunkel des spärlichen Lichts kaum zu erkennen.
Was dann geschah, geschah recht schnell, die Abläufe überschlugen sich. Das kleine Mädchen öffnete in ihrem Forscherdrang die nächste Tür. Es war die zum Bad. Doch als sie eintreten wollte, umgab sie ein ekeliger Gestank. Sie hielt sich die Nase zu, machte kehrt und ging schnell wieder zurück auf die Galerie. Und genau in diesem Moment sah sie, wie ein nackter Mann hinter dem großen Baum hervorkam und geradeswegs auf sie zu eilte. Sie erschrak fürchterlich, schrie gellend auf und stürzte auf die Treppe zu, um schnell zu Mama und Papa zu gelangen. In ihrer Hast und Angst stolperte sie auf deren Mitte und stürzte die letzten Stufen hinab, dabei verknackste sie sich das rechte Sprunggelenk und schrie nun erst recht und das mit gutem Grund. Durch den Lärm wachte die Tochter von R. auf, wähnte sich in einem Albtraum, rannte auf die Galerie und schrie ebenfalls, allerdings ohne Grund. Und auch die G-Kinder waren aufgewacht, tappten auf die Galerie und stimmten in das Schreikonzert ein. R. stand, macht- und hilflos in seiner ganzen Schönheit und seinem Tanga oben auf der Treppe, angezogen durch das Poltern des stürzenden Mädchens und hörte sich die bitteren Vorwürfe seiner Frau an, die natürlich auch auf der Galerie erschienen war, nicht wusste, was los war und schwankte, ob sie zuerst die Tochter beruhigen und dann ihren Mann ausschimpfen sollte, der selbstverständlich für das Chaos verantwortlich war oder umgekehrt. Das Sorbet wurde schnöde im Stich gelassen, die beiden Frauen eilten beim ersten schrillen Schrei aus der Küche und sahen entsetzt, wie das Kind die Treppe herab taumelte und dann herab purzelte. Die beiden Männer, zwar vor Ort, aber mental weggetreten, wurden brutal in die Wirklichkeit zurückgeholt. Alle Pläne und Visionen, alles, was zwischen Hauptgang und nicht serviertem Nachtisch so kunstvoll aufgebaut und eingefädelt worden war, zerstob in einem kurzen Moment. Es war ein Desaster.
Die Knoten all dieser Komplikationen entwirrten sich nach und nach. Die beiden kleinen G-Kinder auf der Galerie beruhigten sich und gingen von selbst in ihr Zimmer zurück, um friedlich weiterzuschlafen. Der Chef, auf dem Arm das jammernde Kind, und seine Frau verabschiedeten sich hastig. R. versuchte einige halblaue Erklärungen anzubringen, doch niemand hörte zu. Seine Frau, immer noch mächtig wütend, war damit beschäftigt die eigene Tochter zu beruhigen, die, brutal aus dem Tiefschlaf gerissen, hemmungslos schluchzte. G’s sanfte Frau hatte sich in ihr Reich, die Küche zurückgezogen, lehnte sich an die Spüle und weinte, weil das Sorbet unvollendet geblieben war. G. selbst war abwechselnd puterrot und kreidebleich. Ihm war immer noch nicht klar, was eigentlich so richtig vorgefallen war und haderte mit dem Schicksal, dass solch ein Scheiß ausgerechnet an diesem Abend hatte passieren müssen. Ihm war aber überdeutlich klar, was er an diesem Abend alles verspielt hatte.
Die R’s reisten am frühen Morgen fast grußlos ab. Der Kontakt erstarb damit vollends. Aus der Beförderung von G. wurde nichts, ein Konkurrent war aus dem Hut gezaubert worden und hatte die Nase vorn. Die Wahl ging gründlich daneben, die Anzahl der Zweitstimmen war weniger und die der Erststimmen viel schlimmer als erwartet. Die Ehe der G.’s wurde nach einiger Zeit geschieden, die Karrieresucht von G. wollte und wollte mit den simpleren Ansprüchen und Ansichten seiner mit mehr Vernunft ausgestatteten Frau nicht harmonieren. Die R’s suchten nie wieder unangemeldet jemanden auf und mieden, nachdem die drei Wochen in der Ferienwohnung überstanden waren, die Gegend, in der G.’s Haus lange Zeit vergeblich zum Verkauf angeboten wurde.
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