Die Sonne stieg hoch und senkte sich wieder zum Horizont. Sie hatten Durst und Hunger und Angst und Verzweiflung und waren voller Wut aufeinander. Zu Hause würde man sie schon seit gestern Abend vermissen, aber niemand wusste, wo sie hingefahren waren. Ihre ganze Hoffnung war, dass jemand die Fahrräder vor dem Tor sehen oder ihre nur noch vereinzelten, krächzenden Hilferufe hören würde. Sie mussten einen weiteren Tag und eine verzweifelte Nacht über sich ergehen lassen, bevor sie das Glück dann doch noch erreichte. Im Radio war über das Verschwinden der jungen Leute berichtet worden und ein Waldarbeiter, der ihre Fahrräder sah, gab der Polizei den entscheidenden Hinweis. Sie waren nach ihrer Befreiung überglücklich, aber ihre Liebe war in dem Bunker geblieben.
R. kannte G. über dessen Frau, sie war Studienkollegin gewesen. Sie hatten im selben Semester die gleichen Kurse belegt und sich bei der Prüfungsvorbereitung geholfen. Nach dem Studium hatten sie sich aus den Augen verloren, und erst als sie sich zufällig in derselben Stadt trafen, in die sie die Arbeit verschlagen hatte, nahmen sie wieder losen Kontakt auf. Sie gingen manchmal mit den Kindern im Wald spazieren, beide waren verheiratet und hatten Familie oder luden sich zum Essen ein. Nicht oft, nicht regelmäßig und auch nur mit mäßiger Begeisterung. Als G. versetzt wurde, brach der Kontakt wieder fast ab. Nur zu Weihnachten schrieben sie sich Karten und manchmal riefen sich die Frauen an, sie kamen gut miteinander aus.
Dann ergab es sich, dass die R.’s in der Gegend Urlaub machten, in der die G’s jetzt wohnten. Eine beschauliche Gegend, abseits aller kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftsrelevanten Strömungen. Flaches Land pur, Kühe, Mais, Kartoffeln. Nur ein Arbeitgeber von Bedeutung, die Fabrik, in der G. eine mittlere Führungsposition bekleidete. Als die G.’s weggezogen waren, hatten sie eine Einladung ausgesprochen - besucht uns doch mal, ihr könnt jederzeit kommen, wir würden uns freuen - die vielleicht nicht ganz ernst gemeinte, aber auch nie widerrufen worden war, denn so etwas macht man ja auch nicht ohne triftigen Grund. Nun machte es R. also wahr und mit Frau und achtjähriger Tochter unangemeldet vor G.’s Haustür. Sie hatten ein Ferienhaus gemietet, das wie üblich nur von Samstag zu Samstag gebucht werden konnte. Die Anfahrt war aber lang und so fuhren sie am Freitag los und hofften, ein Hotel für die eine Nacht zu finden. Sie fanden aber kein freies Zimmer und da kam ihnen die Idee mit dem Besuch bei G., zumal G.’s Frau bei einem ihrer letzten Anrufe von ihrem neuen Haus geschwärmt hatte, einem neuen, großen Haus mit viel Platz für Besucher - ihr könnt jederzeit unterkommen, kein Problem.
Die Überraschung stand G. im Gesicht geschrieben, als er die Haustür öffnete. Der Besuch kam nicht nur unerwartet, sondern auch ungelegen, wie er ihnen bei einem Glas Sprudel im Wohnzimmer eröffnete. Seine Frau sei gerade einkaufen, denn er erwarte heute Abend Besuch, seinen Chef mit Frau, eine wichtige Einladung, wichtig für seine berufliche Karriere. Bevor R. auf die Nöte der von der Fahrt ermüdeten, nach Ruhe lechzenden Besucher einging, legte er ausführlich dar, wie wichtig ihm der Besuch sei, nicht der der G’s, sondern der seines Chefs. Wenn wir einen guten Eindruck hinterlassen, du weißt ja, neben dem Fachlichen spielt die Chemie eine Rolle, die gegenseitige Sympathie, nicht zuletzt die Wirkung seiner Frau auf den Chef und den Eindruck, den sie beide, er und seine Frau, auf die Frau des Chefs hinterlassen müssten, dieser ganze Psychologiekram, du weißt schon. Wenn also heute alles gut ginge, könnte er sich Hoffnung auf eine Stelle machen, die demnächst altersbedingt frei würde. Eine gute Stelle, mit viel Potential, der Einstieg in die Hierarchie. Du weißt ja, wie wichtig Vitamin B ist, genauso wichtig wie Seilschaften, man kommt nur weiter, wenn man Beziehungen pflegt, man muss sich bekannt und unentbehrlich machen. Dass er dieses Feld eifrig bestellte, um im Beruf weiterzukommen, hatte R. schon von früher gewusst, er war ein Schleimer und ein Rackerer. Neu für ihn war, dass G. nun auch im öffentlich Leben Position bezogen hatte. Er kandidierte für die kleinere der beiden Regierungsparteien als Direktkandidat, wie er stolz berichtete, zwar ohne Aussicht auf Einzug in den Bundestag, seine Partei hatte noch nie in ihrer Geschichte ein Direktmandat gewonnen, aber das sei nicht so wichtig, er wolle ja gar nicht gewählt werden, er wolle in der Firma Karriere machen. Jedenfalls hing sein Porträt an allen Straßenecken, was R. auch schon bei der Anfahrt bemerkt hatte, ein wichtiger Schritt zur Vergrößerung seines Bekanntheitsgrads. Diese Kandidatur und seine Strebsamkeit, er war zweifellos ein pfiffiges Kerlchen mit ausgeprägtem Ego, machten ihn für die Firma interessant und genau damit wollte er wuchern und der heutige Abend sollte die Weichen für eine vielversprechende Zukunft stellen.
Nachdem er diese wichtige Botschaft und Erklärung los geworden war, legte er ziemlich unverblümt und schnörkellos den R.’s nahe, für diese Nacht doch lieber ein Hotelzimmer zu suchen, am nächsten Tag, da seien sie herzlich willkommen, dann stehe sein Haus ihnen selbstverständlich zur Verfügung und bla, bla, bla. Doch ein Hotelzimmer zu bekommen war nicht möglich. Diese Erfahrung hatten sie ja schon gemacht, und als G., von seiner Omnipotenz überzeugt, selbst diverse Anrufe tätigte, musste auch er schließlich resigniert feststellen, dass kein Zimmer zu haben war. Den Grund hätte er eigentlich wissen müssen. In der Stadt fand an diesem Wochenende ein überregionales Schützenfest statt, es sollte sogar der deutsche Schützenkönig gekrönt werden und G. würde am Sonntag als Direktkandidat auch seine Aufwartung machen. Jedenfalls waren alle Hotels und Pensionen, alle Privatquartiere und Absteigen ausgebucht und das nicht nur in der Stadt selbst, sondern auch im näheren Umland. Im weiteren Umland gab es sowieso keine Beherbergungsmöglichkeiten mit Ausnahme der Ferienwohnungen in unberührter Landschaft, die aber wie gesagt, nur von Samstag bis Samstag buchbar waren. Eine Weiterfahrt in eine ungewisse Nacht mit der Aussicht auf stundenlanges vergebliches Suchen wollte R. weder sich noch seiner Familie zumuten und das verstand selbst G. Eine verzwickte Situation, die sich auch nicht lösen ließ, als G.’s Frau eintraf und die Gäste herzlich begrüßte. Den naheliegenden Vorschlag, für die R.’s einfach drei Teller mehr hinzustellen, bei Aldi noch eine Flasche Cabernet Sauvignon und ein paar Tiefkühlpizzas zu holen, machte G. nicht. Das passte ihm nicht in den Kram, es würde seine sorgfältig geplante Strategie stören. Und R., der diese Lösung als selbstverständlich erachtet hätte, brachte diesen Vorschlag selbstverständlich nicht aufs Tapet.
Schließlich fanden sie doch eine Lösung, die G. als optimal anpries, der G’.s Frau nach einigem herum drucksen nicht widersprach und die die R’s notgedrungen akzeptieren mussten. G’s Frau würde für die R’s ein einfaches, köstliches Nachtmahl bereiten, Wurstsalat mit Tomaten und dazu gäbe es einen wirklich guten Riesling. Dann sollten die beiden Alten ins Kino gehen, es laufen sehr gute Filme in unserem Programmkino und die Tochter könnte mit den eigenen Kindern noch spielen, obwohl diese deutlich jünger und somit keine adäquaten Spielpartner waren und dann könne sie ja früh zu Bett gehen. Die Kinolösung war zwar nur suboptimal, aber immer noch besser als bei Nacht und Nebel herumzuirren und ein Zimmer zu suchen. Die Tochter nölte etwas, war aber müde von der Reise und versprach, nachdem ihr für das Wochenende diverse Eisportionen und Schokoriegel in Aussicht gestellt wurden, brav zu sein. Doch nachdem der Riesling zur Hälfte geleert war und R. Zeit gefunden hatte, die unangenehme Situation mit seiner Frau in Ruhe durchzugehen, verkündete er G., sie wollen lieber doch nicht ins Kino gehen, sie hätten keine Lust, auch nicht auf einen Programmkinofilm und auch wegen der Tochter und so, sie würden lieber still auf ihrem Zimmer bleiben und warten, bis der Herr Chef mit Gattin wieder abgezogen sei.
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