1 ...6 7 8 10 11 12 ...27 Das Äußere des Mannes, nur wenige Fingerbreit kleiner als der Jarl mit langem, aschgrauen Haar und ebensolchem Bart, passte dazu. Sein Gesicht war gezeichnet von Jahrzehnten der Zeit und mehr als einem Dutzend zumeist verblasster Narben. Die blassblauen Augen waren so kalt wie das allgegenwärtige Eis dieses Ortes. Erik Bokdal hatte im Jahr des großen Durchbruchs den zweiten Winter hier verbracht. Er lebte seit nunmehr vierunddreißig Jahren an diesem Ort und war seit über fünfzehn Jahren der Kommandant des Walls. Er trat jetzt neben den Jarl an die Zinne, verschränkte die Arme vor dem in einen dicken Mantel gehüllten Körper, und schaute hinaus in das ewige Weiß.
»Ich habe gerade an den Durchbruch gedacht«, sagte Varg, »man sagt, das Wetter und die ungewöhnliche Ruhe waren damals genauso wie jetzt.«
»Ganz genau so war es«, bestätigte der Kommandant. »Es war ebenso kalt, ebenso gespenstisch ruhig. Und doch ... fühlt es sich anders an.« Er schüttelte leicht den Kopf und wand sich halb seinem Lehnsherren zu, so dass er ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. »Ich bin über meine lange Dienstzeit hier kein abergläubischer, seniler Narr geworden. Aber ich habe ein ungutes Gefühl, wie eine dunkle Vorahnung für diesen Winter. Es ist schwer zu erklären, aber es wird ein schlimmes Jahr, dessen bin ich sicher.«
Varg zog eine Augenbraue hoch und wand sich seinerseits dem alten Krieger zu. Er kannte Bokdal beinahe sein ganzes Leben lang und hatte mehr als einmal in den vergangenen zwanzig Jahren an diesem Wall Seite an Seite mit ihm gestanden und gekämpft, wenn die Angriffe begannen. Es würde das erste Jahr sein, an dem er nicht an den Kämpfen teilnehmen konnte, wenn die Klabauter nicht in den nächsten Tagen kamen. Der alte Kämpe war tatsächlich kein Mann für Vorahnungen, hatte aber in den Jahrzehnten, die er in der ewigen Kälte verbracht hatte, eine Art sechsten Sinn entwickelt. Mehr als einmal hatte er die Wachmannschaften einen oder zwei Tage vor den Angriffen verdoppeln lassen. Ganz so, als hätte er vorausgespürt, wann die Monstren kamen.
»Ich kenne euch lange genug, um das nicht als das Geschwätz eines alten Soldaten abzutun, Erik. Was ist anders in diesem Jahr? Haltet ihr es für angebracht, wenn ich für etwas mehr Verstärkung sorge, als ich mitgebracht habe? Die Garde hat immer ein paar Männer für den Wall übrig.«
Als Varg vor drei Tagen angekommen war, hatte er fünfzig Blodsjkoldir seiner Rabengarde im Schlepptau gehabt. Drei Dutzend davon waren angedacht, bis zum Ende der jährlichen Angriffe am Wall zu bleiben. Die anderen dienten als Eskorte für den Jarl selbst und drei der Priester, die ihn begleitet hatten. Ormond Torga, der Leiter der Delegation der Kirche in Ulfrskógr, hatte an dem Besuch an der nördlichsten Wehranlage von Norselund mit Freuden teilgenommen. Der alte Mann schien einen unversiegbaren Durst nach Wissen und Neuem zu verspüren. Von den anderen Männern Gottes hatten nur seine beiden ständigen Begleiter, die Brüder Lombardo und Bridges, den Weg in die ewige Kälte angetreten.
»Ich kann es nicht gut beschreiben«, brummte Bokdal. »In manchen Jahren ist es wie ein Ziehen in den Knochen, oder ein flaues Gefühl im Bauch, und dann weiß ich einfach, dass es bald losgeht. Ich will nicht behaupten, dass ich mir jedes Mal sicher bin, aber mehr als einmal hat mich mein Instinkt einen oder zwei Tage gewarnt, bevor es losging. Ich will verdammt sein, wenn ich dieses Gefühl nicht schon als junger Bengel hatte. Auch an dem Tag, bevor der schreckliche Sturm begann, in dem Euer Bruder und so viele andere von uns ihr Leben gelassen haben. Aber vielleicht habe ich mir das auch im Laufe der Dekaden nur so lange eingeredet, bis ich es selbst geglaubt habe. Oder das Alter macht mir doch allmählich das Gehirn matschig.
Aber wie auch immer, so fühlt es sich heuer nicht an. Ich kann es nicht in Worte fassen. Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten Tagen auch nur eines von diesen Biestern zu sehen bekommen werden. Das ganze Jahr hatten wir nicht eine einzige götterverdammte Sichtung. Obwohl es so scheißkalt ist, wie das letzte Mal vor über fünfzehn Jahren. Als ich das Amt des Kommandanten übernommen habe, hatten wir auch so einen gemein kalten Wintereinbruch. Nachts scheint es einem heuer, als schneide einem der Wind die ungeschützten Teile des Gesichts weg. Es ist einfach alles zu ruhig. Auf eine merkwürdige Art, die ich noch nie erlebt habe. Nicht die Ruhe vor dem Sturm, sondern anders, irgendwie unnatürlich.«
Er brach ab, schaute den Jarl direkt an und zuckte mit einem schiefen Lächeln die Schultern.
»Ich plappere wie ein altes Weib, aber besser kann ich es nicht beschreiben, Mylord.«
Varg erwiderte das Lächeln voller ehrlicher Zuneigung zu dem ergrauten, harten Gefolgsmann und nickte.
»Manchmal ist das so, Erik. Ich habe nicht euer Gespür für diesen Ort, aber vielleicht weiß ich, was ihr meint. Wenn ich wieder in Snaergarde bin, schicke ich euch noch ein paar Blodsjkoldir mehr, nur für alle Fälle. Wenn ihr irgendetwas braucht, sendet Nachricht. Ich würde noch eine Weile hierbleiben, aber mit meinen Gästen dieses Jahr bin ich leider nicht so ungebunden, wie ich es gerne hätte.«
Der Kommandant nickte grimmig. »Aye, Mylord. Ich danke euch. Und verstehe schon. Wundert mich, dass sich überhaupt welche von denen hergetraut haben. Muss sagen, ich hatte mir diese Vögel anders vorgestellt. Für verweichlichte Festländer und dann noch Priester scheinen die Drei ziemlich hart im Nehmen zu sein. Hab schon norselunder Burschen gesehen, die sich beschissener angestellt haben in der Witterung hier. Die beiden Lakaien von dem Alten waren auf jeden Fall mal Soldaten, bevor sie die Kutte genommen haben.«
»Aye«, nickte Varg, »die sind auch eher untypisch für ihre Art. Die anderen Priester sind so, wie du sie dir vorstellst, deswegen ist auch keiner von denen hier. Aber der Alte hat mehr Eisen in sich als mancher Herzog vom Festland und die beiden anderen sind kaum mehr als Totschläger, würde ich sagen. Aber wir hätten es schlechter treffen können.«
Sie standen für einen Moment Seite an Seite an den Zinnen, während sich ihre Blicke in dem diesigen, undurchdringlichen Weiß verloren, das sich in Richtung Norden am Horizont ausbreitete. Irgendwo dort vorne, etliche Landmeilen weiter in den Ausläufern des Eisgebirges, mochten die Klabauter lauern. Außer dem Wind herrschte auf diesem riesigen Friedhof aus Eis völlige Stille. Sie standen noch nicht lange dort, und doch spürte Varg, wie die unbarmherzige Kälte sich durch seine dicke Kleidung fraß. Er spürte seine Zehen bereits nicht mehr und das wenige, was unter Kapuze und Bart von seinem Gesicht freilag, hatte sich ebenfalls in eine Mischung aus Taubheit und Kribbeln verwandelt.
»Götterverdammt, die Kälte ist wirklich in jedem Jahr aufs Neue eine Erfahrung«, sagte er schließlich und wand sich von der Zinne ab. »Selbst für mich.«
Er war auf Snaergarde und von seinen Ausflügen zu den Minen bittere Winter gewohnt, aber die Witterung am Wall traf ihn immer wieder wie ein Hammer aus Eis.
»Aye«, grinste der alte Kommandant erneut, »ich glaube, das geht jeder lebenden Seele so, egal wie sehr sie ein Kind der Insel ist. Nur diejenigen, die dauerhaft hier leben, gewöhnen sich irgendwie daran. Aber dieses Jahr ist es besonders übel, selbst für die alten Eisbären wie mich. Oder vielmehr wird es besonders übel. So wie jetzt ist es sonst im Januar. Das gibt ein paar verteufelt harte Wintermonate. Ich kann euch versichern, dass wir nicht an Brennstoff sparen werden.«
»Was immer ihr braucht«, sagte Varg sofort, »das hier ist mit der Arbeit in den Minen der schwerste Dienst, den ein Mann an der Insel leisten kann. Spart an nichts, ob an Nahrung oder Kohle, und meldet eventuellen Bedarf früh genug an.«
Der Kommandant nickt und deutete eine leichte Verbeugung an.
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