»Eine verdammte Schande, dass der Jarl einen Lumpen wie Nemmer zu seinem Sprachrohr gemacht hat«, sagte Ragnar düster. »Selbst wenn ich einen Thane herholen würde, hat der auf der Burg des Jarls auch nicht viel zu melden. Das ist eine solche dumme, verfahrene Situation, als ob der Tod der Herrin nicht schlimm genug wäre. Von dem irrsinnigen Massaker, das der Herr angerichtet hat, ganz zu schweigen.«
»Hier herrscht im Moment tatsächlich der Wahnsinn«, stimmte Kohornen ihm zu. »Und das muss aufhören, und zwar bald. Wir gehen alle vor die Hunde, wenn wir keine Lösung finden. Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Das letzte öffentliche Wort des Jarls hat Nemmer die Autorität gegeben, die er jetzt in Anspruch nimmt. Es läuft alles auf eine direkte Konfrontation hinaus. Das Hauptproblem ist einfach, dass der Jarl nach dem, was er mit den verdammten Pfaffen gemacht hat, völlig unberechenbar ist. Der kann inzwischen genauso verrückt sein wie sein götterverdammter Urgroßvater. Ich traue hier niemandem mehr außer dir.«
Ragnar erschauderte bei den Worten des Kochs. Sein götterverdammter Urgroßvater, Nantes das Tier. Wohl der Einzige vor achtzig Jahren in der großen Schlacht gegen den König gefallene Norselunder, der von keiner Seele betrauert worden war.
»Ich verspüre jedenfalls wenig Lust, mich an einem Aufstand zu beteiligen und Nemmer zu entmachten, nur damit mir der Jarl nachher den Kopf abschlagen lässt«, endete Kohornen.
Ragnar schüttelte den Kopf und klopfte dem schwergewichtigen Mann neben sich auf die Schulter. »Das brauchst du auch nicht. Auch ich gehe das Risiko nicht ein. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Aber du hast recht, das hier ist weit genug gegangen. Ich werde uns Hilfe besorgen, so die Götter es zulassen. Ich wollte das nicht, weil es nach Verrat meiner Loyalität gegenüber meinem Herrn riecht, aber ich weiß mir nicht mehr anders zu helfen. Es geht hier auch um den Fortbestand des Jarltums, wenn nicht gar von ganz Norselund. Weißt du, wie es um die kleine Talida steht? Ist sie immer noch bei ihrem Vater oder inzwischen anderswo untergebracht?«
»Mach dir keine Hoffnungen, die ist immer noch im Westflügel. Birla kümmert sich nach wie vor um sie. Sie lassen sie die Gemächer nicht verlassen, aber ich habe meine Quellen. Sie ist ständig ganz alleine mit der Kleinen, aber man lässt sie in Ruhe. Noch jedenfalls. Was hast du also vor, alter Freund? Ich hoffe doch, du lässt mich nicht im Ungewissen. Diese Sache frisst mir langsam aber sicher meine Nerven kaputt, auch wenn viele behaupten, ich hätte keine. Und um meine Verschwiegenheit musst du dich nicht sorgen, ich weiß sowieso nicht, mit wem ich hier noch reden kann, ohne meinen Hals zu riskieren.«
»An deiner Integrität herrscht kein Zweifel, Dickerchen«, lächelte Ragnar. »Ich werde die anderen beiden Jarle um Hilfe bitten. Wie gesagt, es riecht nach Verrat an Bjorn av Krakebekk, aber es ist keine Lüge, wenn ich behaupte, nicht zu wissen, ob der Jarl überhaupt noch lebt. Wir haben hier unhaltbare Zustände und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand außerhalb der Burg schon weiß, was mit der Delegation der Kirche passiert ist. Bestenfalls wird es Gerüchte in der Stadt geben. Die Jarle müssen davon erfahren. Ich kann nur hoffen, dass sie bei allen eigenen Problemen die Zeit finden, uns zu helfen. Ich kann die Verantwortung für all das nicht übernehmen und sonst ist niemand da.«
Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Dann wollte Korhonen wissen: »Willst du einen Boten schicken? Nach Falksten oder Ulfrskógr?«
Ragnar schüttelte den Kopf. »Keinen Boten, zu gefährlich. Ich habe ein Schreiben aufgesetzt. Es wird ein Vogel sein, den ich noch heute losschicke. Ich würde es ebenfalls nach Möglichkeit gerne vermeiden, am Strick zu enden oder meinen Kopf in einem Korb zur letzten Ruhe zu betten. Auch von einem Stück Dreck wie Nemmer und seinen Spießgesellen erschlagen und verscharrt zu werden klingt, wie ich finde, wenig verlockend. Ein Vogel in der Nacht, der so die Götter wollen seinen Weg nach Falksten finden wird. Ich habe hier einen kleinen Verschlag mit ein paar speziellen Tauben für Notfälle. Ulfrskógr ist noch weiter weg, ich will einfach kein unnötiges Risiko eingehen. Wenn ich erledigt bin, ist niemand mehr mit genug Autorität hier, irgendetwas zu unternehmen. Dann könntest Du den Mistkerlen höchstens noch das Bier vergiften.«
»Hab schon drüber nachgedacht. Was hast du denn genau geschrieben?«
»Ich habe ehrlich geschildert, wie die Lage hier aussieht. Was der Jarl getan hat. Und um Hilfe gebeten. Die anderen Jarle waren unserem Herrn und Jarltum immer in Freundschaft verbunden, wir können nur hoffen, dass sich daran nichts ändert. Nemmer kann mir als Majordomus von Krakesten den Zugang zum Jarl abschneiden, bei einem befreundeten Jarl dürfte ihm das schwerer fallen. Was darüber hinaus geschieht, liegt nicht mehr in meiner Verantwortung. Davon trage ich ohnehin schon mehr als mir zusteht. Und mehr, als ich langfristig ertragen kann, wie ich zugeben muss. Ich bin kein Führer, nie gewesen und ich bin götterverdammt nochmal alt.«
»Wem sagst du das«, schnaufte Korhonen und sah mit einem Mal noch älter aus, als es ohnehin der Fall war. »Nun gut, dann halt mich bitte auf dem Laufenden. Falls ich irgendetwas von Interesse höre, sage ich dir bescheid. Wenn dieser Alptraum bloß bald ein Ende findet, ist es mir mittlerweile scheißegal, wer hier das Sagen hat. Ich habe nur keine Lust, meine letzten Jahre erfüllt von Angst in einem Schlangennest zu verbringen.«
»Hast du noch einen Schluck Wein für einen alten Mann, bevor er wieder hinaus in die Kälte muss?«, fragte Ragnar.
Sofort erhellte sich das feiste, runzlige Gesicht des Kochs.
»Den hab ich immer für dich.«
Während Ragnar wenig später die äußeren Treppen zu einem der hohen Außentürme hinaufstieg, schweifen seine Gedanken unzusammenhängend in die Vergangenheit. Es war nicht das erste Mal, dass eine solche unheilvolle und bedrohliche Stimmung über Burg Krakesten lag. Vor über zwanzig Wintern, damals als Jarl Birger av Krakebekk für kurze Zeit die Regentschaft über das Jarltum innehatte, hatte es sich ebenso angefühlt. Eine Atmosphäre ständiger Angst und Misstrauen, die über allem und jeden lag. Niemand war vor den unkontrollierten Wutausbrüchen des Herrn sicher gewesen. Nicht einmal seine eigene Familie.
Die Herrin und ein Sohn waren der Tobsucht des damaligen Regenten zum Opfer gefallen, bevor sein eigenes Leben mit einem tödlichen Sturz endete. So hieß es jedenfalls, auch wenn es ein Dutzend verschiedene, anderslautende Gerüchte gegeben hatte. Er selbst hatte da noch nicht die Position des Majordomus bekleidet und hatte von all dem nicht viel mitbekommen. Aber viele glaubten, dass Birger av Krakebekk nicht einfach betrunken von seinem Pferd gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte. Er trank zwar zunehmend unkontrolliert, war aber bis zum Ende ein Bär von einem Mann gewesen, den kaum jemals jemand hatte schwanken sehen. Unstrittig war hingegen die Tatsache, dass sein plötzlicher Tod seinem letzten verbleibenden Sohn das Leben gerettet hatte. Eben jenem Jarl von Krakebekk, der jetzt im Westflügel der Burg verschollen war.
Bis heute wusste niemand genau, ob das Schicksal den Menschen von Krakebekk zur Hilfe gekommen war, ober jemand nachgeholfen hatte. Ragnar kümmerte es nicht, und es war ihm ebenso gleichgültig, wie die Hilfe der Jarle aussehen mochte. Er würde tun, was nötig war, wenn er damit verhindern konnte, dass seine Heimat dem Untergang geweiht war. Er hatte nie mit dem Schicksal gehadert. Nach dem frühen Tod seiner Gemahlin hatte er sich gebrochenen Herzens völlig der Aufgabe gewidmet, für die Burg und deren Bewohner zu sorgen. Er würde nicht einfach tatenlos zusehen, wie alles zerfiel, für das er sein Leben lang gearbeitet hatte. Wenn das bedeutete, dass er die Zukunft den Schwingen einer braunen Nordtaube anvertrauen musste, dann war das eben so.
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