»Und kein Mensch weiß, was diese Wesen jedes Jahr auf die Schlachtbank des Walls hier führt?«, wollte Torga wissen.
Varg schüttelte den Kopf. »Vermutlich vermehren sie sich so schnell, dass ihr natürlicher Lebensraum einfach voll ist. Das wäre zumindest eine Erklärung, wenn sie gewöhnliche Tiere wären. Aber auch das kann niemand sagen. Sie können ein Relikt aus längst vergangenen Tagen sein, oder bloß eine garstige Laune der Natur.«
»Meine Chance, einen von ihnen zu Gesicht zu bekommen ist wohl eher gering«, meinte der Erzdiakon bedauernd. »Könntet ihr mir wohl zumindest für meine Unterlagen eine korrekte Zeichnung von ihnen überlassen? Es hat zwar nichts mit meinem Auftrag zu tun, aber ihr wisst ja, der zwanghafte Wissensdurst. Außerdem könnte ich das eine oder andere kirchliche Archiv von falschem Wissen säubern. Darüber hinaus bin ich auch schlichtweg neugierig, wie sie aussehen.«
»Selbstverständlich«, antwortete Varg, »ich werde euch eine Auswahl an Zeichnung zur Verfügung stellen, wenn wir wieder auf Snaergarde sind. Das Äußere der Klabauter ist nicht einfach zu beschreiben. Man sagt, sie glichen vom Körperbau den Riesenaffen der südlichen Dschungel von Haquadelaor. Ich persönlich kann das weder bestätigen noch dementieren, denn ich habe diese Affen nie gesehen und war nie auf dem Kontinent im Süden. Aber wartet auf die Zeichnungen, ich bin sicher, dass sich im Nachlass meines alten Majordomus reichlich brauchbares Material für euch finden wird.«
»Ich danke euch, wie so oft, sehr, Lord Ulfrskógr. Wenn ihr mich nun entschuldigen wollt, ich sollte Lombardo und Bridges in Bewegung setzen, bevor sie mir einfrieren. Ihre Ausbildung war bei weitem zu aufwendig, um sie durch eine solche Unachtsamkeit zu verlieren. Wäre es euch genehm, wenn wir das Abendessen gemeinsam einnahmen würden? Ich würde euch gerne noch mit einigen weiteren Fragen über diesen Ort und seine Entstehung auf die Nerven gehen, wenn ihr gestattet.«
»Ihr werdet diese Insel noch als der größte Kenner Norselunds verlassen, den das Königreich zu bieten haben wird«, meinte Varg. »Aber ich stehe euch selbstverständlich zur Verfügung.«
Der Erzdiakon deutete lächelnd eine Verbeugung an und zog die Kapuze wieder auf seinen Schädel. Er öffnete die schwere Tür offenbar mit der gleichen Leichtigkeit, wie es zuvor der Jarl getan hatte, und schlüpfte in die eisige Kälte hinaus.
Varg sah dem schlanken Mann einen Moment lang nach und schüttelte dann den Kopf. Er würde aus ihm nicht schlau werden, und wenn er noch zehn Jahre hier verbrachte. Was er nicht hoffte.
Der Aufenthalt der Delegation der Kirche war bislang erfreulich entspannt abgelaufen. Die Gäste konzentrierten sich darauf, die Fälle der Verderbnis zu dokumentieren. Die häuften sich seit dem Ende des kurzen Sommers zunehmend. Inzwischen meldeten die Waldhüter beinahe jede Woche ein missgebildetes Stück Wild. Auch die örtliche Flora war offenbar weitaus umfangreicher betroffen, als man zunächst angenommen hatte. Was die Pflanzen anging, waren die Veränderungen allerdings meist weniger spektakulär als bei den Tieren. Obwohl sich die Priester als geringeres Übel herausgestellt hatten, als befürchtet, fand Varg dieser Tage kaum Frieden.
Aus Falksten wusste er, dass die Dinge dort bislang ebenfalls ohne Zwischenfälle liefen. Stian ließ ihm regelmäßig kurze Nachrichten zukommen. Mit Krakebekk stand er nicht direkt in Verbindung, auch hier diente das südöstliche Jarltum, oder vielmehr Falkehaven, als Verbindungspunkt. Noch verlief die Zusammenarbeit zwischen Norselund und der Kirche vorbildlich.
In Falksten hatte man den teilweisen Befall des Fischbestandes in den ersten Wochen verheimlichen können. Inzwischen war das Auftreten der Zeichen der Verderbnis so häufig geworden, das man kaum Repressalien zu befürchten hatte, wenn herauskam, dass auch die Fische an den Küsten von Falkehaven betroffen waren. Im Westen war die geheime Werftanlage nach wie vor verborgen geblieben. Darum hatte Varg sich allerdings auch die geringsten Sorgen gemacht. Sie lag einfach zu weit von allem, was für die Priester von Interesse sein konnte.
Sein eigenes Geheimnis, die Existenz seiner neuen Vasallen, war ebenfalls bislang nicht zum Problem geworden. Bis vor kurzem waren die Meldungen von der im Bau befindlichen Siedlung der Vannbarn durchweg positiv gewesen. Drei Briefe hatte er von Chatikka ith Vallandor erhalten, seit er durch die Anwesenheit der Priester an einem Besuch beim Steinwald gehindert wurde. In den Ersten beiden berichtete die Lady von Vestrgadda von den Erfolgen im Aufbau ihrer neuen Heimat. Von dem Gedeihen des Köttsten, das in Zukunft eine wichtige Nahrungsquelle für die ganze Insel darstellen mochte. Von dem Fortschritt, den der Bau und die Sicherung der Stadt Nemunadej machte. Diese Ersten beiden hatte er bereits beantwortet. Zwischen den Zeilen hatte er, mit einer Mischung aus Unbehagen und Freude, die gleiche wachsende Vertrautheit herauszulesen geglaubt, die er inzwischen empfand, wenn er an die ehemalige hohe Wächterin dachte. Was viel zu oft vorkam.
Der dritte Brief war von ihm bislang unbeantwortet geblieben. Er hatte ihn dreimal gelesen und wusste noch nicht, wie er seine Antwort formulieren sollte. Der Inhalt war auch der Grund für seine wachsende Beunruhigung und zugleich dafür, dass er beinahe verzweifelt die Rückkehr des alten Zauberers herbeisehnte. Dass er sich der Tatsache bewusst war, dass dessen Anwesenheit ob der Präsenz der Kirche eine Unmöglichkeit darstellte, änderte nichts daran.
Während er in die Kälte hinaustrat, streifte seine Hand unwillkürlich über die rechte Brustseite, wo er den letzten Brief von Chatikka bei sich trug. Er nahm sich fest vor, eine Antwort zu schicken, sobald er nach Snaergarde zurückgekehrt war. Vielleicht konnte er ihr zumindest ein wenig Trost und Halt mit seinen Worten spenden, wenn ihm eine persönliche Anwesenheit schon unmöglich war.
Dieser Brief enthielt Kunde von Tod, Verlust und einer weiteren Gefahr für Norselund. Einer von vielen, die dieser Tage über seiner Heimat drohten, wie ein erhobenes Richtschwert.
Westmark, Königreich von Stennward
Louanne konnte nicht anders, als dem alten Mann immer wieder verstohlene Blicke zuzuwerfen. Dabei war der Greis, der sich ihnen vor Kurzem angeschlossen hatte, in keiner Weise sonderlich eindrucksvoll. Er war wohl früher einmal hochgewachsen gewesen, wirkte aber durch den mittlerweile stark gekrümmten Rücken nun eher knorrig. Er schien unter dem dunklen Mantel spindeldürr zu sein, und sowohl der struppige, eisgraue Bart, der ihm bis auf die Brust fiel, als auch das Haar wirkte ausgeblichen und leblos. Er trug einen grob geschnitzten Wanderstab, der etwa so lang war wie er selbst, stützte sich aber scheinbar mehr auf seinen vierbeinigen Begleiter als auf das Holz. Dieses Tier war es im Grunde auch, dass Louannes Aufmerksamkeit immer wieder auf sich zog.
Mit seinem dichten Fell und den langen, gebogenen Hörnern war die schwarze Ziege das größte Tier seiner Art, dass sie je gesehen hatte. Und es gab reichlich Ziegen im Umland. Es war noch etwas anderes als seine Größe an dem Tier, das sie zugleich faszinierte und mit einem vagen Unbehagen erfüllte, aber sie vermochte nicht zu sagen, was genau dieses Gefühl auslöste. Das Tier stapfte stoisch neben seinem Herrn her und schien sich nicht daran zu stören, dass er sie die meiste Zeit über als Stütze benutzte. Ebenso wenig nahm sie in irgendeiner Form Notiz von Gerard, dem betagten Esel, den ihr Vater führte. Diese Gleichgültigkeit beruhte auf Gegenseitigkeit, wobei das alte Lasttier zwar noch immer kräftig und wohlgenährt, aber halbblind und fast völlig taub war. Ihm war im Grunde alles gleichgültig, solange er sein Futter bekam.
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