1 ...7 8 9 11 12 13 ...33 Mit solchen Erzählungen hatte sie den Kindern Verständnis für ihr Leben und die Vergangenheit ihres Volkes beigebracht.
Am schönsten fand Karas, wenn sie ihm abends alte Gedichte vortrug. Seine Großmutter besaß sogar ein paar Abschriften von Büchern aus dieser Zeit und weil Karas immer wieder darum bat, holte sie bald jeden zweiten Abend ihre Schätze hervor. Diese hütete sie als ihren wertvollsten Besitz und mit ihnen lehrte sie ihren Enkel die unnütze Kunst des Lesens.
Die anderen Mitglieder seiner Familie hielten nicht ganz so viel von diesem seltsamen Zeitvertreib. Uralter Kram, den niemand mehr brauchte.
Karas aber liebte es, mit den Büchern seiner Großmutter in ferne Zeiten einzutauchen. In ihm erwuchs damals eine tiefe Sehnsucht, die Grenzen seiner Welt zu überschreiten.
Diese Freie erinnerte ihn seltsamerweise an seine Großmutter. Diese großen wachen Augen, die mehr gesehen zu haben schienen.
Von ihren Erzählungen und den Reden auf den Clantreffen wusste er, dass helle Menschen als sonderbar oder exotisch galten und als äußerst kostbar.
Bis heute hatte Karas selbst noch nie einen hellen Menschen gesehen, doch ihm war klar, dass sie auf dem Markt der Karais sehr, sehr viel für dieses helle Mädchen eintauschen konnten.
Für die Hathai kam das nicht in Frage und Karas war immer stolz darauf gewesen, dass sie nicht zu den Menschenhändlern gehörten. Es gab nur wenige Regeln, die nie von den Hathai verletzt wurden, dazu gehörte die Gastfreundschaft. Sie war hier draußen, am Rande der Wüste, unantastbar. Aus diesen Gründen war nicht daran zu denken, diese Freie auf den Markt zu bringen. Außerdem war da etwas, etwas in ihren seltsam hellen Augen, die ihn so herausfordernd ansahen, etwas, das Karas so verwirrte und seinen Verstand beinahe lahm legte.
Der Morgen begann bereits am Horizont emporzukriechen, als er endlich ruhiger wurde und mit einem Gemisch aus seinen Erinnerungen und Gedanken einschlief. So verpasste er den Zeitpunkt, an dem Shana das Zelt verließ, um an die Quelle zu gehen und danach ihren Teil zum Leben im Lager beizutragen.
Shana hatte bei ihrem Erwachen beschlossen, Handar zu fragen, ob es ihr irgendwie möglich wäre, sich so bei ihm verdient zu machen, dass sie ein Pferd bekommen könne. Sie wusste, dass ihre Kenntnisse der Heilkunst von den Hathai sehr geschätzt wurden. Yambi hatte ihr öfters erzählt, die Hathai würden die Freien wegen dieses Heilwissens schätzen. Wenn Shana nun Werra lehrte, welche Pflanzen und Dinge des Sandlandes nützlich für die Heilkunst waren, könnte sie den Hathai einen Gegenwert für ein Pferd bieten und dann …
Aber Handar brach an diesem Morgen mit einigen anderen Männern sehr früh auf und Shana bekam keine Gelegenheit, mit ihm über ihren Plan zu reden.
Die Männer wollten zu einer der Meeresstädte. Das war jedenfalls das, was Shana verstanden hatte. Shana begriff nicht warum, keiner redete weiter darüber und so kam es ihr nicht in den Sinn, danach zu fragen. Sie half einfach, wie schon an den vorhergehenden Tagen, Kari und Werra.
Diesmal war Ra'un mit den Männern geritten. Karas lag noch schnarchend im Schatten des Zeltes, als der Staub der Reiter bereits nicht mehr am Horizont zu sehen war. Niemand schien sich an seiner Faulheit zu stören.
Als Karas am späten Tag erwachte, war er schlecht gelaunt, räkelte und streckte sich ächzend und langsam, bis er einen riesigen Krug Wasser leerte und sich mit Brot vollstopfte, das Werra ihm serviert hatte. Dann verließ er wortlos das Zelt, schritt aufrecht und stolz zu den Bäumen in Quellnähe, anscheinend nur, um sich im Schatten wieder ungestört niederzulassen. Ab da lag er halb sitzend an einen Baum gelehnt und beobachtete Shana bei jedem Schritt. Es war augenscheinlich. Sie spürte es, auch wenn sie nicht darauf achtete. Es war ihr so unangenehm, dass sie sich gar nicht auf ihre eigentlichen Tätigkeiten konzentrieren konnte. Erst als Kari, die alles genau registrierte, ihm zurief, er solle sich um die Pferde kümmern, verließ Karas grummelnd seinen Beobachtungsposten. Zögerlich stand er auf. Ging ein paar Schritte in Richtung der grasenden Tiere, aber ohne dabei den Blick von Shana zu wenden. Stolperte, stoppte und drehte um.
Nun kam er direkt auf Shana zu und fragte, ob sie ihm Gesellschaft leisten würde. Das heißt, in Wirklichkeit stammelte er etwas Unverständliches zu ihr. Es sollte wohl wie „Kommst du mit, ich zeige dir unsere Pferde?“ klingen, aber hörte sich viel barscher an, eher ein geknurrtes „Komm!“
Kari nickte Shana, die sich verständnislos umsah, aufmunternd zu. Lachend ergänzte sie: „Wenn du nicht mitgehst, wird er wahrscheinlich heute vorne und hinten bei den Pferden nicht unterscheiden können. Außerdem weiß ich, dass du gerne reiten lernen würdest.“
Shana starrte sie daraufhin verblüfft an: „Woher...?“
„Ich das weiß?“, Kari schmunzelte nur und ergänzte ihre Behauptung: „Sonst gäbe es doch wohl keinen Grund für dich, seit Tagen um die Pferde herumzulaufen und jeden Reiter genau zu beobachten. Karas könnte es mit ein wenig Aufmunterung vielleicht schaffen, dir zu zeigen, wie man reitet. Er ist einer der besten und schnellsten Reiter unseres Clans. Wenn er auch gerade scheinbar kaum vernünftig gehen kann, reiten kann er wohl noch!“
Kari war kaum mit ihrer Rede fertig, da griff er schon fest nach ihrer Hand und zog sie mit sich zum Pferch. Mit selbstsicherer Haltung schritt er aus, so dass dieses Mal Shana ins Stolpern kam, was ihn gänzlich unberührt ließ.
Erst vor dem kräftigen braunschwarzen Tier, auf dem er gestern geritten kam, blieb er stehen und ließ Shanas Hand los. Das Pferd begrüßte ihn, als habe es den ganzen Tag darauf gewartet, endlich seinen Kopf anstupsen zu können. Er war von einem Moment zum anderen mit seiner ganzen Aufmerksamkeit bei dem Tier. Alle Unsicherheit, die er in der Unterhaltung mit Shana gezeigt hatte, fiel von ihm ab.
„Leila, meine Liebste“, säuselte seine Stimme klar, melodiös und weich. Es klang wie ein Liebeslied. Kribbelte unter der Haut.
Während er das herrliche Fell mit einer Hand streichelte, löste er mit der anderen schnell und geschickt den Riemen von ihren Vorderbeinen. Über Nacht waren einige der Tiere so gefesselt, dass sie sich langsam und in kleinen Schritten bewegen, aber nicht davonpreschen konnten, wenn sie erschreckt wurden oder ihnen einfach der Sinn danach stand. Die Hathai pflegten solche Fesseln ihren Pferden nach langen Ritten anzulegen, weil sie glaubten, dass die Pferde sich sonst, aus der Gewohnheit der vergangenen Tage, zu weit vom Lager entfernen würden.
Shana bewunderte das große muskulöse Tier aus gehörigem Abstand. Die Stute war kräftiger als Handars Pferd, hatte aber einen kleinen zierlichen Kopf. Sie schien sehr temperamentvoll zu sein, bewegte sich rasch und beäugte Shana von allen Seiten. Leise, um sie ja nicht zu erschrecken, traute sich Shana nach einer Weile zu fragen: „Darf ich sie streicheln?“
„Wenn sie dich lässt. Komm her!“, kam die Antwort sehr schnell, sanft und ohne jedes Stottern zurück.
Und Leila ließ sich streicheln. Karas beobachtete sie verwundert. Mit lächelnden Augen stellte er fest: „Sie mag dich.“
Seine Stimme klang jetzt eher brummig, aber seine Augen schienen hinzuzufügen: ebenso wie ich.
Plötzlich riss Leila den Kopf heftig empor, so dass Shana erschrocken zurückwich und gegen Karas fiel. Der fing sie schnell und geschickt auf und hielt sie länger fest, als wirklich nötig. So nah vor ihm, musste sie ihren Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können. Augen, die sie verschlingen wollten. Sie spürte seine gezügelte Kraft, die Sicherheit seiner Bewegungen ...
Wie lange sie so zwischen den Pferden standen und dabei vergaßen, was sie dort eigentlich wollten, hätten sie nicht sagen können. Erst als sich eine andere Stute zu Leila drängen wollte und sie zur Seite schob, begannen sie sich wieder vom Fleck zu bewegen. Rasch überprüfte Karas nun, ob es Leila und den übrigen Pferden an etwas mangelte. Ohne lange zu überlegen oder zu fragen, half Shana ihm mit den richtigen Handgriffen, so dass er nachher leicht ungläubig fragte: „Du hast vorher nie mit Pferden zu tun gehabt?“
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