Die letzten Worte hatte das Mädchen nur kichernd ausgestoßen und Shana bemerkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, obwohl sie im Zelt war. Sie konnte sich selbst nicht recht erklären, warum ihr dieses Geplapper so peinlich war. Denn an das Erstaunen, welches ihr Aussehen auslöste, war sie ja inzwischen gewöhnt. Hier im Lager war sie in den ersten Tagen ständig angestarrt worden. Schließlich war sie sogar in ihrer eigenen Familie die einzige Hellhäutige nach ihrer Mutter gewesen.
„Nein, du versorgst erst das Pferd und klopfst den Staub ab, bevor du hier rein kommst!“, befahl Kari mit lautem und strengem Ton. Und es war klar, dass sie ihren Sohn damit meinte, der sich geräuschvoll dem Zelteingang genähert hatte. Der grunzte unverständliche Laute, bevor er fluchend das Pferd zum Pferch führte.
Der Klang seiner Stimme war ungewöhnlich dunkel und volltönend, obwohl er sehr leise zu fluchen schien.
Zu Shana gewandt sagte Kari lächelnd und gleichzeitig ernst: „Das hab ich noch nicht erlebt, du hast dem Kerl total den Kopf verdreht! Aber hüte dich vor ihm!“
Mit diesen Worten ging sie scheinbar ungerührt weiter ihren Tätigkeiten nach, reichte Shana das Salz und Mehl aus dem einen und öffnete den anderen Sack. Während Shana die Lebensmittel an ihren Platz brachte, fischte Kari einen roten Umhang und einen blaugrünen, durchscheinenden Stoff aus dem zweiten Sack hervor, ebenso einen weiteren Beutel mit trockenen Früchten, dazu kamen noch ein paar Bündel, in denen sich Nadeln und Garn befanden. Außerdem beförderte sie etliche goldene Schmuckstücke zutage, die achtlos in den Sack geworfen worden waren und einen umso sorgfältiger in ein dickes Tuch eingeschlagenen, rechteckigen Gegenstand.
Das Nächste, was Shana direkt wieder auf den jungen Mann aufmerksam machte, war die Tatsache, dass er draußen über eines der Spannseile stolperte und im Zelt die kunstvoll gestapelten Körbe mit der Kleidung ins Wanken gerieten.
„Karas, du Tollpatsch, schau gefälligst, wohin du deine Füße setzt. Man muss auch laufen können, nicht nur reiten.“ An dem lachenden Tonfall Karis war deutlich zu hören, wie sehr sie ihren Sohn liebte, selbst wenn er ihre sorgfältig gehütete Ordnung gefährdete.
Shana fühlte sich zunehmend unbehaglich. Als der junge Mann endlich ins Zelt kam, wagte sie es kaum sich zu bewegen, vermied es strikt, in seine Richtung zu sehen. Ihr war noch heißer als gewöhnlich. Wieder verharrte er offensichtlich mitten in der Bewegung und starrte sie nur an.
Da betrat Ra'un hinter ihm das Zelt. „Nanu, Brüderchen, endlich zurück? Was machen die Karais? Ich hoffe ihre Märkte erholen sich wieder von eurem Besuch.“
Nun richtete Karas seine Aufmerksamkeit auf seinen Bruder. Laut lachend warfen sich die beiden in die Arme. Drückten einander herzlich, bis Ra'un, der etwas kleiner als sein jüngerer Bruder war, gespielt nach Luft rang und ausstieß: „Bitte, bitte lass mich am Leben, kleiner Bruder!“
Ra'un erfasste gleich, was seinen Bruder zuvor so fasziniert hatte. Er deutete leicht mit dem Kopf auf Shana, die ihnen immer noch den Rücken zukehrte, und sprach mit gesenkter Stimmte: „Tja, ein schönes Fundstück, nicht wahr? Und sie ist wirklich überall so hell!“
Shana fühlte, wie ihr das Blut heiß in den Ohren rauschte. Sie errötete erneut von Kopf bis Fuß. Bisher hatten sie diese Reden nie gestört, niemals. Auf einmal war es anders. Sie fühlte den Blick der funkelnden Augen wie brennende Pfeile auf ihrem Rücken, fühlte sich nackt, obwohl sie vollständig bekleidet war. „Das ist unverschämt“, schoss es durch ihren Kopf. „Nein, nein, er - er ist unverschämt.“
Ra'un zog Karas unterdessen zu den Kissen und Werra stellte ein kleines Kohlebecken für die Teezubereitung vor die Brüder, dabei plapperte sie unentwegt auf die beiden ein, erzählte von den Käfern, von merkwürdigen Blättern und anderen Belanglosigkeiten. Sie plapperte und plapperte, bis Karas sie näher zu sich zog und durchkitzelte. Dies war seine erste, halbwegs normal wirkende Handlung, seit er Shana erblickt hatte, aber selbst dabei wanderte sein Blick immer wieder verstohlen über ihre Gestalt.
Hier im Zelt wickelten die Brüder mit lässiger, geübter Geste ihre Gesichtsschleier ab, um ihren Tee zu schlürfen. Ein entrücktes Lächeln umspielte die vollen Lippen des Jüngeren, wann immer er Shana mit seinen Augen verschlang.
Als sie so nebeneinander saßen, verglich Shana die beiden jungen Männer miteinander. Ihre ebenmäßigen Gesichter wurden von den gleichen halblangen, schwarzen Locken eingerahmt. Große dunkle Augen, kräftige schwarze Brauen, gerade Nasen und wie Handar ein kantiges Kinn - die Hathai waren ein schönes Volk und sie wussten es.
Obwohl Karas nur wenige Jahre älter sein konnte, als sie selbst, wirkte er sehr männlich. Sein Bruder war nicht nur nicht ganz so muskulös, sondern auch sein Gesicht war nicht ganz so kantig in seiner Erscheinung. In Ra'uns Augen lag eine freundliche Besonnenheit, seine Bewegungen waren ruhig und zielgerichtet. Er war eindeutig der Reifere. Karas war lauter, lebhafter und sein Gesichtsausdruck wechselte rascher. Die Lebendigkeit saß unter seiner dunkel bronzefarbenen Haut und das harmonische Spiel seiner Muskeln zeigte sich in jeder Bewegung. So wie er jetzt da saß, war es kaum vorstellbar, dass er ein Zelt leise und unbemerkt betreten konnte.
Als Handar von seiner täglichen Beratung der älteren Männer zurückkehrte, glätteten sich seine Züge vor Freude. Karas beeilte sich, aufzustehen und seinem Vater respektvoll entgegenzutreten. Doch selbst jetzt stolperte er fast und bei der folgenden Umarmung starrte er zwischendurch wieder auf Shana.
Dabei hatte sie sich, seit dem Zusammentreffen der Brüder im Zelt, ganz in eine hintere Ecke zurückgezogen, saß lautlos und unauffällig an ihrem Platz und nähte an der Decke weiter, die sie nach Karis Vorgabe seit einigen Tagen fertigte.
Das Essen fiel an diesem Abend reichhaltiger aus. Karas war aufgefordert zu erzählen. Er berichtete, wie seine Gruppe auf die Spuren einer Truppe Karais gestoßen war und ihnen bis zu deren Dorf gefolgt war. Dort waren die Hathai wohl auf dem Markt gewesen. Der größte Teil der Waren, die sie heute mitgebracht hatten, stammten aus dem Dorf. Aber die Worte, mit denen Karas davon berichtete, beinhalteten einige merkwürdige Umschreibungen, die Shana nicht ganz eindeutig zu deuten wusste und es beschlich sie der Verdacht, dass die Hathai keinen normalen Handel betrieben hatten.
Nachdem sich alle zum Schlafen auf ihre Lager in und außerhalb des Zeltes zurückgezogen hatten, lag Shana lange wach. Sie horchte. Es dauerte eine kurze Weile und gleichmäßiges Atmen durchzog das Zelt. Shana aber verspürte den Drang, noch einmal hinauszugehen. Sie hatte bewusst gewartet, bis alle im Zelt schliefen, denn sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Sie bewegte sich wie stets, nahezu lautlos.
Die Luft war in diesem Teil der Oase nur unmerklich kühler als tagsüber. Ein sanfter Wind ließ Shana diverse Gerüche intensiver wahrnehmen. Keiner dieser Gerüche war wie Zuhause. Hier mischten sich aufdringliche Düfte verschiedener Blüten mit dem Geruch weidender Tiere. Dies war eine andere Welt. Freundlich, aber immer noch fremd. Allerdings hatte sie sich, seit sie hier war, schon lange nicht mehr so fremd gefühlt wie heute Nacht. Ständig liefen vor ihr die Bilder des erlebten Tages ab: Karas bewegungslos auf dem Pferd. Karas, der stolpert. Karas, der mit seiner melodiösen dunklen Stimme leise und doch volltönend von seiner Reise berichtet. Sein warmes Lachen. Und immer wieder seine Augen. Sein gebannter, brennender Blick.
„Oh, nein!“, stöhnte sie und als ihr klar wurde, dass sie angespannt war, als ob sie auf etwas oder jemanden wartete, ärgerte sie sich noch mehr über sich selbst. Das fehlte noch, dass sie von diesem jungen Hathai von ihrer eigentlichen Aufgabe abgelenkt wurde. Sie musste ihre Kräfte sammeln und möglichst bald Handar mitteilen, dass sie daran dachte, seine Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch zu nehmen. Bisher hatten die von den Albträumen zerrissenen Nächte sie davon abgehalten zu gehen.
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