Mit Müh und Not brachten sie den Vater bis vor die Türe. Ab und zu öffnete dieser die Augen, um aus verschleiertem und ungläubigem Blick erst sein Weib, dann Wulfila und dann wieder in die Nacht zu schauen, um dann wieder, in den Knien einsackend, den Halt zu verlieren.
Die ersten Reiter preschten schon durch das Dorf und über den Versammlungsplatz hinweg. Im Schutze des Hausschattens versuchten sie, den Vater hinter die Hütte zu bringen. Eng an sie gekauert hing Helmgard an Mutters Seite. „Großmutter!“ dachte Wulfila, „wo ist Großmutter!?“ Unsanft drückte Wulfila den Vater gegen die Hauswand, so dass Mutter ihn alleine halten musste und lief die paar Schritte zurück zum Eingang. Großmutter lag zusammengekauert, so, als wolle sie die Feuerstelle schützen, um das kleine Häuflein Asche herum und summte, ja, gurrte eine für ihn unverständliche Melodie. Wulfila war mit ein paar wenigen Sprüngen bei ihr, um ihr aufzuhelfen. Doch sie schüttelte immer wieder den Kopf und gab unverständliche Geräusche von sich. Während Wulfila mit aller Mühe versuchte, sie vom Boden aufzuheben, hörte er von draußen einen gellenden Schrei. „Mutter!“ ging es ihm durch den Kopf. Fast unsanft ließ er die Alte wieder in den Staub fallen und rannte zur Türöffnung. Neben dem Pfosten stand sein Holzschwert. Instinktiv griff er danach, sich wohl bewusst, dass er damit gegen die schwer bewaffneten Soldaten, die mit ihm bestimmt kein Spiel spielen würden, keinerlei Chance hätte und stürmte hinaus. In der Dunkelheit sah er nur die unheimliche, drohende Gestalt eines Reiters, fast so hoch wie ihr Haus, der sich dann nach etwas hinab beugte. Wulfila konnte den Vater am Boden wie einen Schatten liegen sehen. Mutter kauerte neben ihm und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Eiskalt lief es Wulfila den Rücken herunter, als er sah, wie dieser Soldat, als er sich wieder aufrichtete, an den Haaren seine Schwester zu sich auf Pferd zog, die, den Zug an ihren Haaren zu lindern, sich krampfhaft selber daran festhielt. So hatte Wulfila seine Schwester noch nie schreien hören. Schreie aus Schmerz und Todesangst. Wulfila stand wie versteinert in der Türöffnung und sah den verschwitzten, von einem Helm eingezwängten Kopf eines römischen Soldaten, über dessen Gesicht ein triumphales Grinsen ging, als er sich, seinem Pferd die Sporen gebend, davon zu reiten versuchte. Voller Wut rannte Wulfila hinterher. Seine Schwester lag bäuchlings vor dem Soldaten über dem Pferd und schrie. Für einen kurzen Augenblick glaubte Wulfila, ihrem Blick begegnet zu sein. Angsterfüllte, um Hilfe flehende Augen hatten ihn angeschaut. Genervt vom Geschrei schlug der Soldat mit der flachen Hand ins Genick des Mädchens, dessen Angstgeschrei daraufhin unvermittelt verstummte. Wulfila lief immer noch, sein Holzschwert schwingend, hinter dem enteilenden Legionär her. Hinter der Feuerstelle des Versammlungsplatzes war er nah genug heran gekommen, um wie wild auf das Pferd einzuschlagen. Erschreckt wieherte es auf und begann zu tänzeln. Verwundert blickte sich der Soldat um und sah den wild um sich schlagenden Jungen hinter sich. Ein Schlag mit der flachen Seite des Holzschwertes erwischte ihn am Oberschenkel. Im ersten Moment verspürte der Soldat einen durch und durch gehenden Schmerz und befürchtete schon, dass dieser Angreifer ihm eine größere Wunde zugeführt hätte. Mit seiner freien linken Hand griff er sich an die schmerzende Stelle. Ein Grinsen ging über sein Gesicht, als er merkte, dass er nur einen Schlag von einem Kind mit einem Holzschwert erhalten hatte. Er zügelte sein Pferd, sodass es zum Stillstand kam und schaute dem Knaben in die Augen. Immer noch wild um sich schlagend begann Wulfila eine neue Attacke gegen den Römer. Dieser grinste ihn nur an. Wulfila holte zu einem weiteren Schlag aus. Als sich sein Arm senkte, um dem Soldaten noch einen Schlag auf das Bein geben, hob der Reiter nur seinen Fuß an und trat dem Jungen mit der Sandale in das Gesicht. Durch Wulfila fuhr ein solch starker Schmerz, dass er unfähig war, seinen zum Schlag erhobenen Arm zu senken. Für einen Augenblick stand er regungslos in dieser Position um dann, wie vom Hammer geschlagen, auf den Boden zu fallen. Bevor ihm die Sinne schwanden, sah er noch in das verschwitzte, grinsende Gesicht des Soldaten. Das Letzte aber, was er noch sah, waren die herabhängenden goldgelben Haare seiner Schwester, die bäuchlings, mit schlaffen, baumelnden Armen über dem Rücken des Pferdes lag. Dann wurde es dunkel um Wulfila.
Verschwommen sah er das Gesicht seiner Mutter, die sich über ihn gebeugt hatte. In ihrem tränennassen Gesicht spiegelte sich flackerndes Licht. Hatte er denn so lange geschlafen? Warum schmerzte ihn sein Gesicht so sehr? Er lag doch nicht in der Hütte! Langsam konnte er die Konturen seiner Mutter immer besser erkennen. An ihrem Kopf vorbei sah er in den Sternenhimmel. Der Blick wurde aber durch Rauchschwaden immer wieder getrübt. Wulfila vernahm Brandgeruch. So roch es, wenn die Stammesältesten am Versammlungsplatz um das knisternde Feuer saßen. Doch dieses Knistern war lauter. Nach und nach ließ das Dröhnen in Wulfilas Kopf nach und er vernahm Schreie von Frauen und Kindern. „Was ist geschehen?“ ging es ihm durch den Kopf. „Römer!“ Unvermittelt sprang Wulfila auf, so dass die Mutter fast rücklings zu Boden fiel. Römer waren im Dorf – hatten das Dorf überfallen. Ihm wurde schwindelig - und plötzlich speiübel. Wulfila sackte auf die Knie nieder, stützte seinen gesenkten Kopf auf seine Hände auf und übergab sich. Er bemerkte, dass er in seinen Zähnen eine Lücke hatte und plötzlich spürte er auch den Schmerz am Mund und auf der Nase. Mit der einen Hand tastete er behutsam sein Gesicht ab. Auf seinem Handrücken bildete sich ein roter Streifen, als er sich über die Nase fuhr. Neben ihm stand seine Mutter, legte ihre Hand auf seine Schulter und rüttelte ihn leicht. Immer noch auf den Knien hockend blickte er zu ihr auf und sah in ihr schmerzvolles Gesicht. Tränen liefen ihr immer noch die Wangen herunter. Langsam erhob sich Wulfila und blickte an der Mutter vorbei in die Richtung, in der die Hütte seiner Familie stand. Er sah aber nur noch ein paar aufrechtstehende Eichenbalken, die, am oberen Ende noch leicht glühend, kleine Rauchschwaden in den dunklen Nachthimmel sandten. „Großmutter!“ schoss es ihm durch den Kopf. Er rannte los. Mutter wollte ihn noch zurückhalten, aber mit ein paar Sprüngen stand Wulfila dort, wo vormals der Eingang zu seinem Zuhause war. Nun konnte er über die verkohlten Balken hinweg in den Wohnraum schauen. Großmutter lag noch so, wie er sie zuletzt in Erinnerung hatte, um die Feuerstelle herum. Nur, dass jetzt das ganze Haus eine riesige Feuerstelle war. Unter seinen Füßen wurde es warm, als er ganz behutsam ein paar Schritte zu der am Boden kauernden Gestalt wagte. Es roch nach Feuer und verbranntem Fleisch. Wulfila konnte die Hände der alten Frau erkennen, krallenartig in den Boden gedrückt. Auch Beine, den Körper und den Kopf konnte er noch ausmachen. Er begann zu zittern. Mit wutverzerrtem Gesicht drehte er sich langsam um und sah den Kopf seiner Mutter über die Balkenreste blicken. Ein ohrenbetäubender Schrei entfuhr ihm, überdeckte das Geräusch der knisternden Häuser, rufenden Müttern und schreienden Kinder. Wulfila schrie seine Trauer aus sich heraus; vermischt mit Wut und Zorn über diese Unheil bringenden Römer.
Langsam schritt er wieder zum Eingang hinaus und bemerkte aber, als sein Blick noch einmal durch die Trümmerreste schweifte, das dort, wo sich die Gatter für die Tiere befanden, kein totes Schaf, kein verbranntes Kalb lag. Hatte Vater die Tiere noch gerettet? Nein, Vater war doch...! Er sprang über einen querliegenden Stamm aus dem verkohlten Haus heraus und wandte sich zur Mutter, die immer noch auf das Häuflein Asche an der Feuerstelle stierte. „Wo ist Vater?“ wollte er wissen. Langsam drehte sie ihren Kopf in Richtung Waldesrand. Wulfila folgte ihrem Blick und sah in einiger Entfernung Sippenmitglieder, die zwischen einer Vielzahl von auf der Erde Liegenden umherirrten. „Helmgard!“ schluchzte die Mutter. „Helmgard!“ Immer wieder rief sie den Namen ihrer Tochter und schaute dorthin, wo sich der Fluss in Richtung Feindesland entlang schlängelte. „Helmgard!“ Erst jetzt langsam dämmerte es Wulfila! Er sah noch die Sandale auf sich zusausen. Beim Hinstürzen hatte er noch das grinsende Gesicht des Römers auf dem Ross gesehen und vor ihm, kopfüber nach unten baumelnd, Helmgard, seine Schwester! Als wolle er dem Reiter nachstürzen, rannte er los in Richtung Fluss. Er hörte noch die Mutter rufen. Aber er musste doch seine Schwester zurückholen! Seine kleine Schwester! Wulfila lief und lief, bis er an die Stelle des Flusses kam, an der man ihn im flachen Wasser überqueren konnte. Hier brachten sie ihre Viehherde über das Wasser auf die andere Seite zur Weide. Er lief noch die kleine Anhöhe hinauf. Dort blieb er stehen und versuchte, in der Dunkelheit noch seine Schwester auf dem Pferd des Römers auszumachen. Nichts! Nur Schwärze und das leise, friedliche Geplätscher des Flusses.
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