»Nein, natürlich nicht«, sprang ich ein, denn nun hatte es Hanno kurzfristig die Sprache verschlagen. »Wir wollen zu Dr. Petersen. Ist der da?«
»Nein, der ist unterwegs.«
»Wann kommt er denn wieder?«, fragte ich.
»Frühestens morgen.«
»Und wo ist er hin?«
»Auf eine Antiquitätenmesse. War’s das?«
»Ja! Nein! Nicht wirklich«, sagte ich. »Es geht um eine kleine fünfeckige Holzkiste, die er gestern von Herrn Schulze bekommen hat. Wir wollten mal fragen, ob es möglich wäre, ein Foto davon zu machen.« Wenn man schon lügen muss, dann sollte man wenigstens bei einer Version bleiben, damit es halbwegs glaubwürdig rüberkommt.
Als ich die Kiste erwähnte, weiteten sich ihre Augen für den Bruchteil einer Sekunde. »Ich weiß nichts von einer Kiste. Kommt nächste Woche wieder, wenn mein Vater zurück ist«, sagte sie schroff und wollte die Tür schließen.
»Kannst du nicht bitte mal nachschauen, ob dein Vater sie irgendwo herumstehen hat?«, versuchte ich es schnell. »Es ist wirklich sehr wichtig.«
»Auf dem Deckel steht eine 151«, schoss Hanno noch hinterher.
»Hört mal zu, ihr drei Knalltüten«, sagte sie wütend. »Ich habe jetzt wirklich ganz andere Probleme, als mich mit eurem Kinderkram zu beschäftigen. Kommt nächste Woche wieder!« Darauf krachte die Tür vor unseren Nasen scheppernd ins Schloss.
»Mistkacke!«, schimpfte Hanno. »War die aber mies drauf. Hast du gesehen, wie die uns angeguckt hat? Also, wenn Blicke Kinnhaken austeilen könnten, wären wir jetzt so was von K.o. Und was nun?«
»Hast du das gehört?«, fragte ich geistesabwesend.
»Laut und deutlich. Meine Ohren pfeifen immer noch von dem Knall.«
»Nicht der Knall, ich meinte, was sie gesagt hat.«
»Ich bin ja nicht taub, Tim. Sie hat uns Knalltüten genannt. Da hab ich ehrlichgesagt schon Schlimmeres gehört.«
»Sie hat uns ‘drei Knalltüten‘ genannt.«
»Jaha, ich weiß.« Hanno begriff immer noch nicht.
»DREI!«, schrie ich außer mir. »Drei, drei, drei! Weißt du, was das bedeutet?«
Erst jetzt fiel auch bei Hanno der Groschen. »Sie hat uns angelogen«, rief er empört.
Ich ging zurück zur Tür und rammte dem Drachen den Klopfbügel an den Schädel.
Die Tür wurde augenblicklich geöffnet. »Was denn noch?«, schnauzte sie.
»Sag nochmal, wie du uns eben genannt hast!« brüllte ich.
»Mensch, nimm das nicht so persönlich!«, versuchte sie zu beschwichtigen. »Damit muss man nun mal rechnen, wenn man andere nervt.«
»Wiederhole, was du zu uns gesagt hast!«
»Na gut, ich habe euch Knalltüten genannt. Entschuldigung, es wird auch nie wieder vorkommen. Zufrieden?«
»Nein, du hast uns ‘drei Knalltüten‘ genannt. Wen hast du damit alles gemeint?«
Ich muss ihr wohl eine Menge Angst eingejagt haben, denn als sie jetzt antwortete, glaubte ich, in ihrer Stimme ein kleines Zittern zu hören: »Na gut, wenn es dir so wichtig ist. Aber verstehen muss ich es nicht, oder? Ich meinte natürlich dich, deinen klopsigen Freund und deinen Zwillingsbruder hinter dir. Warum singt der eigentlich die ganze Zeit Kinderlieder? Ist der nicht ganz richtig in der Birne?«
»Lass mich raten!«, sagte ich in einem Anfall von Geistesgegenwärtigkeit. »Heißt du vielleicht Viktoria?«
»Woher weißt du das?«, fragte sie verblüfft.
Hanno und ich warfen uns einen vielsagenden Blick zu und dann spazierten wir, ohne ihren Protesten Beachtung zu schenken, an Viktoria vorbei ins Haus.
»Du hast die Kristallkugel angefasst«, schleuderte ich Viktoria an den Kopf.
»Und woher weißt du das schon wieder?«, fragte sie perplex.
»Ganz einfach«, antwortete ich. »Du hast dich damit verraten, dass du Tim2, meinen Zwilling, sehen kannst. Für alle, die die Kugel noch nicht berührt haben, ist er nämlich unsichtbar.
»Mist!«, sagte sie. »Soll das heißen, dass Tim2 erst existiert, seitdem du die Kugel berührt hast?«
Ich nickte.
»Und du?«, fragte sie Hanno. »Hast du auch das Ding angefasst?«
Hanno hielt ihr wortlos den geöffneten Rucksack hin.
»Igitt, was ist das denn?«, schrie sie angewidert.
»Frag nicht«, sagte Hanno.
»Da finde ich meinen Schwanz plötzlich gar nicht mehr so schlimm.«
»Was für einen Schwanz?«, fragten Hanno und ich unisono.
Viktoria griff hinter sich und zog einen glänzenden Jaguarschwanz hervor.
Neugierig strich ich mit der Hand über das gefleckte Fell. »Kannst du das spüren?«, wollte ich wissen.
»Jede Berührung«, bestätigte sie. »Was ist denn mit deiner wandelnden Jukebox? Kannst du die nicht irgendwo wegsperren?«
»Hab ich schon probiert. Klappt nicht, wenn ich mich umdrehe, ist er immer wieder da.«
»Und du?«, fragte sie Hanno. »Kannst du nicht einfach eine andere Tasche mitnehmen?«
»Egal, welche Tasche ich mir schnappe, die Kröte sitzt schon drin. Und wenn ich keine Tasche mitnehme, sitzt sie dick, fett und schleimig auf meinem Kopf.«
»Ist ja widerlich!«
»Wo hast du nun die Kiste versteckt?«, fragte ich.
Viktoria führte uns ins Wohnzimmer. Dort stand sie auf dem Tisch.
»Das ist sie nicht.« Hanno war der erste, dem es auffiel. »Auf unserer Kiste stand die Zahl ‘151‘, auf dieser steht aber eine ‘11‘.«
»11?«, schrie Viktoria. »Wieso denn 11? Als ihr vorhin hier angeklopft habt, stand da noch eine fette 8.«
»Und Schulze hatte behauptet, es würde eine 7 eingeschnitzt sein«, fügte ich hinzu.
»Jetzt, wo du es sagst. Als Cedric mir die Kiste vorhin aus Papas Büro gebracht hatte, stand da tatsächlich noch eine 7 drauf.«
»Wer ist denn Cedric?«, fragte ich Viktoria.
»Mein Bruder«, erklärte sie kurz und wechselte ohne Vorwarnung auf Schreimodus: »Cedriiiiiic, hast du etwa die Kugel angefasst? Hab ich dir nicht gesagt, du sollst die Finger davon lassen?«
Ein leises Knistern hinter uns ließ uns alle herumfahren. Auf einem Sessel in der Zimmerecke hockte ein kleiner Junge. Unverkennbar Viktorias Bruder. Er hatte die gleichen dunklen Locken und auch die gleichen braunen Kulleraugen und doch passte da etwas nicht zusammen.
»Was machst du denn da?«, fragte Viktoria wieder in Zimmerlautstärke. »Komm mal her!«
Doch Klein Cedric schüttelte nur den Kopf und sah uns ängstlich an.
»Was ist denn mit dir?«, fragte seine Schwester besorgt und dann erkannte ich plötzlich, was an diesem Bild nicht stimmte.
»Schaut mal, er sitzt gar nicht richtig!«, machte ich die anderen auf meine Entdeckung aufmerksam. Kaum hatte ich das ausgesprochen, begann der Kleine auch schon herzerweichend zu weinen.
»Was ist denn mit dir, mein Süßer?« Viktoria machte einen Schritt auf ihn zu, blieb aber kurz darauf wie angewurzelt stehen, als sie sah, was mit ihm gerade passierte.
Bei jedem Schluchzer, den er von sich gab, hob er ein winziges Stück vom Sessel ab. Bis Viktoria aus ihrer Starre erwachte, schwebte er schon einen guten Meter über dem Sitzpolster. In drei weiteren Schritten war sie bei ihm, pflückte ihn aus der Luft und drückte ihn an sich. »Was hast du da nur gemacht?« Jetzt war auch sie den Tränen nah. Tröstend strich sie ihm über den Rücken, bis sein Schluchzen langsam verebbte.
»Stell ihn doch mal probehalber ab!«, schlug ich vor. Bis hierhin hatten Hanno und ich uns noch dezent im Hintergrund gehalten.
Viktoria sah uns skeptisch an, tat aber, was ich gesagt hatte. Es klappte. Cedric stand mit beiden Füßen auf dem Boden, doch nur solange, bis er vor Erleichterung tief Luft holte. Prompt schwebte er wieder ein paar Zentimeter über dem Teppich.
»Wie soll ich das nur Papa beibringen? Das ist eine Katastrophe», jammerte Viktoria. »Wenn der das erfährt, brauche ich garantiert ein Zeugenschutzprogramm. Ich bin doch für meinen Bruder verantwortlich.«
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