»Wir haben jetzt schon genug Zeit verplempert. Das Einzige, was ich von dir möchte«, schnitt mir Dr. Röttgers das Wort ab, »ist, dass du dich jetzt auf deinen Stuhl setzt!« Sein Blick verriet, dass jeder weitere Einwand einem Selbstmordkommando gleichkommen würde.
»Freut mich!« Tim 2 war mit ausgestreckter Hand vor Dr. Röttgers stehen geblieben, aber seine Hand wurde ignoriert.
»Pscht, komm jetzt!«, zischte ich ihm zu.
»Angenehm?« Als aber auch dieser Gruß unerwidert blieb, folgte er mir schmollend.
Hanno hatte bereits einen dritten Stuhl an unseren Tisch gezogen und im Gegensatz zu allen anderen lachte er auch nicht über mich. Allerdings vermied er jeglichen Blickkontakt. Wahrscheinlich war er noch beleidigt, wegen des letzten Nachmittags.
»Dein Lehrer ist aber unhöflich«, nölte Tim 2.
Ich ging lieber nicht darauf ein, sondern wühlte das Buch aus der Tasche.
»Seite siebenundsiehiiiibziiiig!«, flötete er.
»Das weiß ich selber, du Klugscheißer«, fauchte ich und knallte das Buch auf den Tisch. Als ich aufblickte, glotzten mich alle an.
»Sind wir jetzt soweit?« Dr. Röttgers Geduld hatte ein bedenkliches Level erreicht.
Ich nickte und dann richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit endlich auf die Punischen Kriege.
Fünf Minuten lief alles prima, dann begann Tim 2 sich zu langweilen. Zunächst trommelte er nur mit den Fingern der rechten Hand auf der Tischplatte. Nach einer Weile folgte die linke Hand mit rhythmischem Schnippen. »Klopf-Klopf-Schnipp, Klopf-Klopf-Schnipp, Klopf-Klopf-Schnipp …« Als ihm auch das nicht mehr ausreichend erschien, begann er die Schlagzeugstimme mit leisen Gesangseinlagen zu bereichern.
Unauffällig warf ich ihm einen flehenden Blick zu, den er allerdings total missinterpretierte und prompt ein paar Dezibel aufdrehte.
»Pssssst!«, zischte ich, aber da fuhren schon wieder die ersten Köpfe zu mir herum. Alle sahen mich an, als hätte man mich gerade zu Unrecht aus der Klinik entlassen. Ich hob entschuldigend die Schultern und drehte mit dem Zeigefinger ein paar Kreise vor meiner Schläfe, um zu verdeutlichen, dass es sich bei diesem Typ um einen Bekloppten handelte, was Tim 2 natürlich postwendend mit einer weiteren Hörprobe übersetzte: »We will – we will – rock you …«
»Klappe!«, flüsterte ich, was er wiederum mit einem satten Crescendo quittierte.
»Das darf doch nicht wahr sein. Was ist denn an KLAPPE so schwer zu verstehen? Dabei kann doch keiner mehr dem Unterricht folgen.«
»Hey, mach mal halblang, Tim!«, schnauzte mich Tobi von hinten an. »Der Einzige, der hier wirklich stört, bist du.«
»… ROCK YOU …«
»Ey, ich bin das doch gar nicht!«, schnauzte ich zurück. »Das macht alles dieser bekloppte Idiot hier neben mir.«
»Nenn mich noch einmal bekloppt und ich semmle dir eine!«, bellte Niko, der genau neben Tim 2 saß.
»… we will, we will …«
»Du doch nicht«, rief ich verzweifelt und versetzte Tim 2 einen Seitenhieb mit dem Ellenbogen.
»… ROCK AUA!« Tim 2 sprang auf und schubste mich mit einem gezielten Stoß vom Stuhl.
Auch Niko war hochgeschossen und wollte auf mich losgehen, aber da wälzte ich mich schon am Boden.
»Was ist denn nun schon wieder los?«, polterte Dr. Röttgers.
»Ich war das nicht.« Tobi hob zum Beweis beide Hände in die Luft. »Der ist da irgendwie von allein umgekippt.«
»Stimmt das, Hanno?«, fragte Dr. Röttgers, aber anstatt mir beizustehen, nickte er nur mit verkniffener Miene.
In zwei Schritten war Dr. Röttgers an meinem Tisch und zog mich am Ohr in die Senkrechte.
»Ich glaube, es wird für uns und die Punischen Kriege das Beste sein, wenn du jetzt den Rest der Stunde vor der Klassentür verbringst.«
»Alle Leut, alle Leut geh‘n jetzt nach Haus …«
Ich konnte mir gerade noch ein „Pscht“ verkneifen, da fiel mir auf, wo sich Dr. Röttgers eigentlich befand. Ungläubig kniff ich die Augen auf und zu, denn er stand genau dort, wo Tim 2 saß – nein, er steckte so ziemlich genau volle Kapelle in Tim mittendrin.
»Wie geht das denn?«, fragte ich begriffsstutzig.
»Nun, das kann ich dir sofort demonstrieren«, schrie Dr. Röttgers und ich konnte riechen, dass es bei ihm reichlich Knoblauchsalami zum Frühstück gegeben hatte. Dann zog er mich am Ohr aus dem Raum. Mit einem lauten „Krawumm“ knallte die Tür hinter mir ins Schloss.
Okay, fasste ich zusammen, nachdem ich eine Weile die Tür angeglotzt hatte. Wenn ich das hier nicht alles zufällig geträumt haben sollte – wovon ich nicht ausgehen kann – habe ich jetzt wohl einen nervigen Doppelgänger. Also eine Doppelgänger-Nervensäge. Sogar die Doppelgänger-Nervensäge mit dem schlechtesten Musikgeschmack des Jahrhunderts. Und diese Doppelgänger-Nervensäge konnte anscheinend nur mir allein auf die Nerven gehen, denn für alle anderen blieb sie offensichtlich völlig unsichtbar. Mit anderen Worten: Ich war mit der größten anzunehmenden Wahrscheinlichkeit über Nacht verrückt geworden. Bekloppt, schwachsinnig, geisteskrank, wahnsinnig, gestört, meschugge, plemplem, von allen guten Geistern verlassen, nicht mehr ganz richtig im Kopf und wer weiß sonst noch was. …Oder? Ich kniff mir kräftig in den Arm mit der Hoffnung, aus diesem Albtraum zu erwachen, denn diese Interpretation meiner Lage wäre mir immer noch die Liebste gewesen. Aber nichts geschah. Also doch bekloppt. Mistdreck!
Das musste man erst mal verdauen.
Zum Glück blieb mir nun bis zum Ende der Geschichtsstunde noch etwas Zeit, mich wieder in den Griff zu bekommen und ungestört darüber nachzugrübeln.
»… Ich hab ’ne Tante aus Marokko und die kommt, hippeldihopp …«
»Ich kann dir das erklären«, schleuderte ich Hanno entgegen, als er unmittelbar nach dem Erklingen der Pausenglocke aus dem Klassenraum geschossen kam. Sein Blick hätte Eisbären zum Erfrieren bringen können. Anscheinen nahm er mir mein gestriges Verhalten noch immer schwer übel. »Du wirst es nicht glauben. Das ist so abgefahren«, schickte ich verunsichert hinterher.
»Zu den Mülleimern!», befahl er knapp.
Widerstandslos folgte ich ihm, während Tim2 fröhlich meine Schultern packte und die „Polonäse von Blankenese“ schmetterte.
Ich konnte mir nicht helfen, aber in meinem Kopf spielten sich Bilder ab, in denen ich, ein Holzknüppel und Tim2s Rübe gerade so etwas wie Baseball spielten.
„Als du heute Morgen vor der Klassentür gestanden hast», begann Hanno gleich zu sprechen, nachdem wir unser geheimes Versteck erreicht hatten, »dachte ich noch, du hättest mal wieder mehr Schwein gehabt als ich. Nach dieser peinlichen Vorstellung, die du da eben hingelegt hast, bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher.« Sein Kopf leuchtete dazu karminrot, was bei ihm so viel heißt wie „höchste Alarmstufe“. Hannos wechselnde Gesichtsfärbungen sind übrigens ein hoch interessantes, aber bisher auch noch gänzlich unerforschtes Gebiet. Wir beide vermuteten, dass wahrscheinlich die Firma Pelikan dahinter stecken könnte. Denn dass die spezifischen Farben um die es hier geht, alle in ihren Schultuschkästen zu finden sind, kann kein purer Zufall sein. Hannos persönliches Farbspektrum erstreckt sich von dem bereits erwähnten Karminrot (Pelikanfarbe 34) über Magentarot (43), Zinnoberrot (54), Orange (59b), Violett (109), Gebrannte Siena (190) bis hin zum Französisch Grün (135a). Wobei letztere Farbe ein wenig aus dem Rahmen fällt, da sie in der Regel kein Indiz für einen Aufregungszustand darstellt.
»Mensch Alter, hast du es immer noch nicht geschnallt, dass dein fröhlicher Zwilling für andere unsichtbar ist?«, riss er mich aus meinem gedanklichen Tuschkasten.
»Ach, und woher willst du das wissen?«, fragte ich begriffsstutzig.
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