»Rate mal!«
»Ey, wir sind hier nicht bei „Wer wird Millionär“.«
»Aus 1 wird 2«, setzte Hanno seine Rätselstunde fort.
»Ich habe keine Lust auf solchen Blödsinn.« Allmählich verlor ich die Geduld. »Kannst du jetzt bitte mal Klartext re… Ach du dickes Ei! Die Kiste!« Ich sackte zu Boden. »Meinst du es hängt damit zusammen?«
»Nun, es würde jedenfalls einen Sinn ergeben: Aus einem Tim werden zwei Tims«, übersetzte Hanno.
Okay, es ergab einen Sinn – keinen, den ich verstand, aber es war wenigstens eine Erklärung.
»Und wieso ist das nur mir passiert?«, fragte ich.
»Wer sagt denn das?«
Verwirrt sah ich mich um. »Kann es sein, dass du mir etwas verheimlichst?«
»Erinnerst du dich noch an meinen Spruch?«, antwortete Hanno mit einer Gegenfrage.
»Abgesehen davon, dass er eine originelle Grammatik hatte, nicht.«
»Ein Tier für dir«, half mir Hanno auf die Sprünge.
»Und?«, fragte ich neugierig.
Zur Antwort hielt Hanno mir seinen geöffneten Rucksack vor die Nase.
»Igitt, was ist denn das?« Vor Schreck war ich einen Schritt zurückgesprungen.
»Quahahahk», machte es aus dem Sack und Hanno sah mich mit der gequälten Verzweiflung eines Fallschirmspringers an, der kopfüber in der weit und breit einzigen Freilufttoilette gelandet war.
Ich wagte noch einen vorsichtigen Blick. »Ist das so was, wie …,
wie …, ‘ne …?«
»… Kröte«, vollendete Hanno. »Ich glaube schon.«
»Wow, ich wusste gar nicht, dass Kröten Tränensäcke und rote Augen haben können. Was ist das eigentlich für eine seltsame Farbe? Sieht aus wie irgendetwas Ausgekotztes.«
»Dann muss er heute Mellanie Wiedmayer zum Frühstück vertilgt haben«, sagte Hanno und wir mussten beide kichern. »Allerdings hat die Kröte sich bisher mehr für Schulliteratur, als für dicke Mädchen in lila Strickkleidern, interessiert. Als ich heute Morgen meine Schultasche packen wollte, hatte sie nämlich schon drei meiner Hefte und einen Teil des Geschichtsbuches verputzt. Das gesamte frühe Mittelalter ist jetzt praktisch ausgelöscht.«
»War ja auch eine brutale Epoche, mit den Kreuzrittern, der Inquisition und so«, versuchte ich etwas Humor einzuflechten.
»Ich finde das gar nicht witzig, Tim. Wenn das rauskommt, muss ich am Ende des Schuljahres das Buch ersetzen und dann kann ich mir den Todesstern endgültig abschminken. Weißt du, wie lange ich schon darauf spare?«
»Wenn das alles ist? Ich würde mir mal lieber Gedanken darüber machen, wie wir diesen Kistenzauber wieder loswerden können.«
»Gar nicht«, mischte sich Tim2 ein. »Wir werden jetzt für immer zusammen bleiben. Freust du dich?«
»Jaja, wie verrückt«, sagte ich, natürlich ohne es zu meinen. Tim2 wäre bei der Lösung dieses Problems jedenfalls keine Hilfe, dachte ich bitter.
»Der Ursprung ist zweifelsfrei bei der Kiste zu finden, da ist es doch nur logisch, wenn wir auch dort nach der Lösung suchen würden«, schlug Hanno vor.
»Ja, und bei unserem Glück gibt es mich dann plötzlich dreimal, deine Kröte hat sich verdoppelt und dein Rucksack beherbergt in Kürze eine komplette Krötendynastie, nachdem sich die Zwei darin fleißig fortgepflanzt haben.« Positives Denken gehörte nicht zu meinen Stärken. Hatte ich es schon erwähnt?
»Hast du eine bessere Idee?«, fragte Hanno genervt.
Hatte ich natürlich nicht, also machten wir uns gleich nach der Schule auf den Weg zu Schulzes Trödelladen.
»Was habt ihr zwei Rotzlöffel hier zu suchen?« Schulze war nicht sonderlich erfreut, uns zu sehn. »Ich mag es nicht, wenn ihr Gören hier in meinem Laden herumlungert!« Ausgerechnet heute war er mal nicht in seiner Werkstatt.
»Wir interessieren uns für eine Holzschatulle», improvisierte ich.
»Hab ich nicht.«
»Doch, hier im Regal!«, sagte Hanno und zeigte nach oben.
»Wo?«, fragte Schulze, denn es war keine Holzkiste mehr zu sehen.
»Gestern war da noch eine», erklärte ich hastig. »Fünfeckig und mit einer eingeschnitzten 151 auf dem Deckel.«
»Stimmt nicht!«
»Doch!«, widersprachen Hanno und ich gleichzeitig.
»Die 151 stimmt nicht«, korrigierte Schulze. »Auf der Kiste stand eine 7.«
»Und wo ist die Kiste jetzt?« Ich wollte mich nicht über die Zahl streiten, vielleicht meinte er ja die Quersumme.
»Weg!«
»Wie weg? Verkauft?« So langsam machte mich seine wortkarge Art wütend.
»Nee, die hab ich gestern einem Experten zum Schätzen mitgegeben. Ist nächste Woche wieder da. Vielleicht hab ich ja Glück und das alte Ding ist ordentlich was wert. Ist mir immer noch ein Rätsel, warum mir dieses eigentümliche Stück noch nicht vorher aufgefallen war.«
»Nächste Woche?«, kreischte Hanno. «Das geht aber nicht. Wir brauchen die Kiste sofort.«
Schulze sah uns mit zusammengekniffenen Augen an.
»Ja, für seine Oma», änderte ich blitzschnell die Strategie. »Die hat nämlich morgen Geburtstag und hat sich genauso eine Kiste gewünscht.«
»Tja, dann muss deine Oma eben noch eine Woche auf ihr Geschenk warten.«
»Können sie uns denn wenigstens die Adresse von dem Experten verraten?«
»Ich verstehe nicht, was das bringen soll. Dadurch bekommt ihr sie auch nicht schneller, falls ihr sie euch dann überhaupt noch leisten könnt.«
»Wir wollen nur ein Foto von der Kiste schießen, das wir Oma dann als Gutschein schenken können«, schloss sich Hanno meinem raffinierten Plan an.
Schulze musterte uns argwöhnisch, während wir angestrengt unsere überzeugendsten Unschuldsminen aufsetzten.
»Das soll nun einer begreifen. Gestern erst habe ich das seltsame Ding im Regal entdeckt und heute reißen sich schon alle darum«, grummelte er sich kopfschüttelnd in den Bart, während er eine Visitenkarte aus seiner Schublade hervorpfriemelte und sie uns über den Tresen reichte. »Hier«, grunzte er. »Ihr Zwei gebt ja vorher sowieso keine Ruhe!«
»Dr. Peter Petersen, Antiquitäten und Expertisen«, las ich vor. »Was sind denn Expertisen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist das die Mehrzahl von Experte?«
»Nee, das sind Experten«, sagte ich.
»Na, dann ist das eben die weibliche Mehrzahl von Experte«, tippte Hanno. »Wo wohnt denn dieser Dr. Petersen mit seinen Expertisen?«
»Veilchenweg 45«, las ich weiter vor.
»Das ist nicht weit«, sagte Hanno. »Lass uns gleich hingehen!«
Dr. Petersens Haus stand ganz am Ende des Veilchenwegs, versteckt hinter ein paar großen Kastanien.
»Für seinen Garten scheint er aber keine Expertisen zu haben«, stellte Hanno fest, denn alles in allem sah dieser stark vernachlässigt aus.
»Ja, da sollte mal jemand ein ernstes Wort mit den zuständigen Expertisen reden.« Ich hatte ein neues Lieblingswort gefunden.
An der Haustür war ein Messingklopfer in Form eines grimmig dreinblickenden Drachenkopfes angebracht.
»Ui«, sagte Hanno und fast erwartete ich, dass ihm voller Vorfreude der Sabber von der Unterlippe tropfen würde. »Der magische Klopfer zur Zauberw…«
»Hanno!«, fuhr ich ihn an. »Findest du nicht, du hast uns beide schon genug mit deinem magischen Getue reingeritten?«
Seine Vorfreude perlte ihm noch aus dem Gesicht, da öffnete sich die Tür und ein blasses Mädchen mit dunklem Lockenkopf starrte uns zornig an, als hätten wir ihr mit unserem Erscheinen gerade das Pokerblatt des Jahrhunderts versaut. Ihre großen braunen Augen bohrten sich in unsere Köpfe und setzten bei mir für einen Moment alle Fähigkeiten der artikulierten Verständigung außer Kraft.
»Ich kenne dich», rief Hanno erfreut. »Du bist doch eine Klasse über uns.«
»Ja, supertoll«, sagte sie trocken. »Noch irgendwas, oder war’s das, was du mir mitteilen wolltest?«
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