»Hanno, wenn du das Ding jetzt nicht sofort zurückstellst, ticke ich gleich so was von aus.« Das war definitiv das aller-allerletzte Mal, dass ich mich mit diesem durchgeknallten Spinner verabredet habe.
Hanno und ich kennen uns schon seit dem Kindergarten, also fast unser ganzes Leben lang und solange hatte sich bei ihm schon immer alles um Fantasy, Mystery und Science-Fiction gedreht. In seinem Kinderbett schlummerten keine Teddys oder Kuschelhasen, sondern Actionfiguren, Laserschwerter und das komplette Jedi-Team aus Star Wars Episode 1. Alles, was nur im Entferntesten nach Magiern, Superhelden und fernen Galaxien roch, wurde geradewegs inhaliert, mit einer kräftigen Prise Hanno-Schwachsinn angereichert und im Anschluss unzensiert in die Umlaufbahn geschossen. Und nun ratet mal, wer dabei seine Lieblingsumlaufbahn war!
»Ich habe echt keinen Bock mehr, deine Umlaufbahn … äh, ich meine mit dir hier noch länger in diesem Trödelladen abzuhängen.«
»Lass mich nur noch einmal nachsehen, welches Geheimnis die Schachtel in ihrem Inneren verbirgt.« Feierlich hob er den Deckel. Unüberhörbar war das schon seit Langem nicht mehr geschehen, denn der Ton, den die kleinen Scharniere von sich gaben, hätte auch wunderbar als Geräuschkulisse für besonders blutige Horrorstreifen herhalten können. In meinem Hirn spielte sich prompt eine Parade unschöner Szenen ab, in denen alle Requisiten aus Grufttüren und Holzsärgen bestanden. Eiskalte Schauer veranstalteten Staffelläufe über meinen Rücken.
»Die verschollene magische Zauberkugel«, hauchte Hanno voller Ehrfurcht.
»Hör doch mal endlich mit deinem albernen Magisch-Kinderkram auf!« Langsam hatte ich die Faxen dicke. »Und wenn überhaupt, ist das nur eine halbe Kristallkugel.«
»Nimm diese halbe Kugel an dich, du Ungläubiger, und finde ihre zweite Hälfte! Nur so wirst du den steilen Weg der Erkenntnis erklimmen«, verkündete Hanno bedeutungsschwer und fuchtelte mit der Kiste vor meiner Nase herum.
»Lass das!«, zischte ich und schubste das Ding von mir weg.
»Was hast du getan?« Hanno deutete auf die Kugel, die urplötzlich zu leuchten begonnen hatte.
»Gar nichts«, versuchte ich mich herauszureden. »Ich habe sie nur weggeschoben. Was hältst du sie mir auch so dicht unter die Nase?«
»Du musst an irgendeinen Schalter gekommen sein.« Er sah mich voller Vorwurf an und vergaß dabei prompt sein Merlin-Getue.
»Na und, dann kann man das Ding auch sicher wieder ausschalten.«
Forschend drehte Hanno die Kiste herum.
»Ich habe nur das Glas berührt«, verteidigte ich mich und drückte zur Demonstration nochmal auf die Kugel. Zusätzlich zu dem Licht begann sich jetzt im Inneren der Kugel irgendetwas spiralartig in Bewegung zu setzen.
»Ah, das ist so was wie eine Schneekugel«, meinte Hanno zu erkennen. »Ist ja krass! Schau mal, sieht aus wie ein kleiner Miniblizzard!«
Ich strengte meine Augen an. «Nee, nach Schnee sieht das nicht aus, eher wie ein kleiner Sandsturm, ein Tornado ... oder so. Nein warte, das sind keine Sandkörner, guck mal, das sind kleine Zahlen.«
»Ja stimmt, und Buchstaben«, ergänzte Hanno. »Wie abgefahren ist das denn?«
»Ja, ganz toll! Und nun lass uns hier endlich verschwinden!«
» Drei!«, hauchte Merlin-Hanno.
Bitte sehr, er will hier allein zurückbleiben – kann er haben. Ich hatte mich schon abgewandt, drehte mich aber trotzdem noch einmal zurück, als Hanno aufgeregt rief: »Da stand eben eine ganz große Drei.«
»Super! Du bist ein Held«, sagte ich, verstummte aber sofort, als ich feststellte, dass ein paar weitere Zahlen und Buchstaben plötzlich zu wachsen begannen. Langsam blubberten sie nach oben und stellten sich in einer Linie auf.
» 2SWUD1ARI «, las Hanno vor. »Das ist er, der Geheimcode! Wir müssen ihn nur noch knacken und die Welt gehört uns.«
Gerade wollte ich eine geniale Verbindung zwischen ‚knacken‘ und ‚beknackt‘ herstellen, da sah ich, dass einige Buchstaben begonnen hatten, ihre Plätze miteinander zu vertauschen. »Ich glaube, dein Code knackt sich gerade von ganz allein.« Gefesselt starrten wir in die Kugel.
» AUS 1 WIRD 2 «, las Hanno wieder vor. »Ist das aufregend. Und jetzt bin ich dran.«
Ehe ich die Gelegenheit fand, einen Einwand loszuwerden, hatte er mir die Kiste aus den Händen gerupft und fing an, sie kräftig durchzuschütteln.
»Nein, nicht so», erklärte ich. »Du musst nur die Kugel berühren.«
Behutsam strich Hanno über das Glas und nochmal spielte sich das gleiche Schauspiel ab.
»4«, las er vor und anschließend: » Ein Tier für dir «
»Jetzt ich wieder!« Mit dem Finger stupste ich an das Glas.
Diesmal wurde das Licht etwas schwächer und das Wort » Viktoria « flimmerte auf.
»Haha!«, lachte Hanno schadenfroh. Keine Zahl, du hast verloren.
Schnell strich er wieder über das Glas, aber nichts veränderte sich.
»Haha!«, lachte ich mindestens genauso schadenfroh. »Nein, du hast verloren. Viktoria heißt nämlich Sieg und das stand bei mir, also bin ich der Sieger und du der Loser.«
»Aber bei dir wurde das Licht schwächer, also zählt das nicht.«
»Loser, Lo …«
»Ist da wer?«, krächzte es plötzlich aus dem hinteren Teil des Ladens, in dem sich der Durchgang zu Schulzes Werkstatt befand.
Von da an ging alles blitzschnell. Hanno klappte die Kiste zu, warf sie zurück ins Regal und wir flüchteten so schnell aus dem Laden wie sonst nur Bankräuber vor der Polizei.
Erst zwei Straßenecken weiter blieben wir schwer schnaufend stehen. Das heißt, eigentlich war es nur Hanno, der so schwer wie eine altersschwache Espressomaschine schnaufte. Ein Wunder, dass er es bei dem vielen Schwabbelfett überhaupt geschafft hatte, so weit zu laufen.
»Denn mach‘s mal gut, Alter! Ich muss los.«
»Wieso das denn?«, keuchte Hanno. »Wir waren … für den ganzen Nachmittag … verabredet. Du wolltest doch noch … puh … mit … zu mir kommen. Meine Mama hat uns extra Pizza zum Mittag … gebacken.«
»Ach, habe ich etwa vergessen, dir zu sagen, dass ich nur bis … äh …« Ich warf einen Alibiblick auf meine Armbanduhr, »… bis genau jetzt kann?«, log ich nicht gerade glaubwürdig, aber noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen, hätte ich nicht ertragen. Hannos peinliches Kleinkinder-Nachmittags-Programm – nein danke. Langweilen kann ich mich auch zu Hause.
»Tja, denn mal bis morgen!«, sagte ich und ließ Hanno einfach stehen.
Doppel-Tim und Hanno-Kröte
Es war Freitagmorgen sieben Uhr und im Radio schmetterte irgendein sadistischer Moderator: »Ich hab ’ne Tante aus Marokko.«
Das Radioprogramm wird auch immer bekloppter, dachte ich matt, zog mir die Bettdecke über den Kopf und versuchte mir angestrengt einzureden, es sei Sonntag, aber da klopfte schon meine Mutter an die Tür: »Tim, aufstehen, du musst zur Schule!«
Der Moderator sang unbeirrt weiter. Wie viele Strophen hatte diese Tante aus Marokko eigentlich? Aber halt mal, schoss es mir plötzlich durch den Kopf: Seit wann habe ich eigentlich einen Radiowecker? Und was mich noch viel brennender interessierte: Seit wann steht der Radiowecker, den ich ja nicht habe, auf dieser Seite des Bettes?
Ganz langsam drehte ich mich zur Wand und blickte am anderen Ende meines Kopfkissens in mein eigenes Gesicht.
»Guten Morgen!«, sagte mein Gesicht in schönster Sonntagslaune.
In Sekundenschnelle war ich hochgeschossen und stolperte, noch fest in meine Bettdecke verkrallt, rückwärts aus dem Bett.
Das Gesicht, war nicht nur mein Gesicht, es hing auch noch der Rest von mir unten dran. Sogar den gleichen Schlafanzug trug das Etwas, also das Untendran.
»Gut geschlafen?«, fragte es mit meiner Stimme.
Читать дальше