1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Ruhig nickte Toritaka. "Nur unmittelbar mit dem Todesfall in Verbindung stehende Details werden erwähnt", erklärte er. "Wenn ihr Bankhaus nicht der unmittelbare Grund für den Tod war, wird es nicht im Bericht stehen. Aber einmal rein theoretisch, wenn jemand getötet worden wäre, weil er kurz davor stand, illegale Machenschaften an seinem Arbeitsplatz an die Öffentlichkeit zu bringen, dann würde so etwas natürlich auftauchen..."
"So etwas wäre bei uns natürlich undenkbar", beeilte sich Mura zu sagen, "zumal Masakiri kaum ein Interesse an Problemen für die Yoshioka-Bank haben konnte. Er hat seinen Lebensunterhalt damit verdient, indem er mit unserem guten Ruf Fondsverträge abschloss. Gab es schlechte Nachrichten über die Yoshioka-Bank, schmälerte das direkt seinen Verdienst."
"Und wie schmal war sein Verdienst in letzter Zeit?" Toritaka konnte sich nicht verkneifen, den Finger ein wenig in die Wunde zu legen - im Moment machte keine Bank wirklich gute Geschäfte.
Die Stichelei kam offensichtlich an; der Personalchef versank noch ein Stück tiefer in seinem Sessel. "Ich habe natürlich keine genauen Zahlen", sagte er leicht errötend, "aber es ist kein Geheimnis, dass wir im Moment... schwierige Zeiten durchmachen. Wenn ich mich recht erinnere, haben in den letzten drei Monaten vier oder fünf von Masakiris Kunden ihre Fonds bei uns aufgelöst - ich hatte vor zwei Wochen ein Gespräch mit ihm deswegen. Er hat mir versprochen, bald neue Kunden zu gewinnen. Soweit ich weiß, hatte er einen Insidertipp aus den Vereinigten Staaten an der Hand und hoffte auf überzeugende Kaufargumente für unseren Pharma-Mischfonds."
Interessiert beugte sich der Inspektor näher heran. "Und hat er die neuen Kunden bringen können?" wollte er wissen.
"Oh ja", nickte Mura, "sogar gleich acht."
"Acht?!" Erstaunt blinzelte Toritaka. "Ich dachte, die Zeiten wären so schwierig?"
Der Personalleiter seufzte. "Das lag daran, dass er sehr großzügige Ausstiegsklauseln vereinbart hatte. Er hatte seine eigene Provision als Sicherheit für Verluste innerhalb des ersten Monats hinterlegt und dafür eben für diesen ersten Monat quasi 'auf Probe' die Fonds vermittelt. Verstehen sie... wenn unsere Anleger nach einem Monat sehen, dass der Fond nicht Rendite nach ihren Erwartungen abwirft, können sie bei diesen Verträgen ohne weiteres ihr Kapital zurückziehen."
Nachdenklich sah der Inspektor vor sich hin. "Und wie wahrscheinlich ist es", wollte er wissen, "dass das geschieht?"
"Leider sehr wahrscheinlich", sagte Mura. "Unser Pharma-Mischfonds ist ein Underperformer. Und wenn der Dow Jones noch weiter so abstürzt, wie er das gestern getan hat, dann wird er sogar Verluste machen. Die jüngsten Gerichtsentscheidungen zu Generika-Medikamenten in den USA verunsichern die Anleger, und es kommen zu wenig Innovationsimpulse von den Wirtschaftsgrößen. Nicht mal mehr Bayer macht von sich reden, und die Deutschen waren früher immer für angenehme Überraschungen gut."
"Der Dow Jones ist also gestern abgestürzt?" fragte Toritaka noch einmal nach. "Nur dass ich das richtig verstanden habe."
Der Personalchef nickte. "Der tiefste Sturz seit einem Monat, und das am Wochenanfang", bestätigte er.
Langsam erhob sich Toritaka aus dem Sessel. "Damit ist er nicht alleine", sagte er. "Auch Masakiri-san ist tief gestürzt... vom Dach eines Parkhauses in den Innenhof."
"Gestürzt?" Auch Mura stand auf. "Sie meinen... gefallen? Oder gesprungen? Selbstmord?"
"Sehr wahrscheinlich letzteres", sagte der Inspektor, "nach allem, was sie mir eben erzählt haben, hatte er einen guten Grund. Beruflicher Misserfolg ist eins der häufigsten Motive für solche Entscheidungen."
Darüber schien der Personalchef einen Moment nachzudenken. "Das ist seltsam", sagte er dann. "Masakiri schien eigentlich nicht der Typ für einen Suizid. Er stand ziemlich fest mit beiden Beinen im Leben, und er hat sich auch nie wirklich zugrunde gearbeitet. Ich hatte immer den Eindruck, er würde die Balance zwischen Anspannung und Entspannung gut bewältigen."
Toritaka lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln. "So täuscht man sich in den Menschen", sagte er. "Jedenfalls vielen Dank für ihre Mithilfe, Mura-san. Ich bin sicher, der Polizeibericht wird ihr Bankhaus bestenfalls am Rande erwähnen."
"Danke auch für ihr Verständnis, Toritaka-san", gab der Personalleiter zurück. "Soll ich sie noch zum Aufzug begleiten?"
"Danke, ich finde alleine hinaus", meinte der Inspektor und verließ das Büro.
Auf dem Weg zurück zu seinem Auto dachte er das Gespräch von eben noch einmal durch. Es hatte sich das erwartete Bild von Masakiri geboten: ein Mann, der vor dem beruflichen Abgrund stand und dem es leichter erschienen war, sich in einen wirklichen Abgrund zu stürzen, anstelle sich mit seinen Problemen auseinanderzusetzen. Solche Dinge kamen immer noch zu oft vor - Männer, gerade in verantwortungsvollen Positionen, waren nicht bereit, sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchten, bis es irgendwann zu spät war, und dann folgten solche Verzweiflungstaten.
Blieb nur noch zu klären, ob Mura-san sich wirklich getäuscht hatte oder ob Masakiri tatsächlich nicht der Typ für einen Suizid war. Im Prinzip konnte man solche Fragen nur beantworten, indem man sich mit der Familie traf, aber der Inspektor war zu taktvoll, um sich jetzt gleich darum zu bemühen. Mit Sicherheit hatte Dezernat 5 heute früh die Angehörigen informiert - das war Standardprozedur, sobald man die Identität eines Toten festgestellt hatte - und wenigstens bis nach der Beerdigung würde man warten müssen, um ein wenig den Anstand zu wahren.
Allerdings gab es noch andere Möglichkeiten für einen Polizisten, Rückschlüsse auf die Persönlichkeit eines Menschen zu schließen, und diese nutzte Toritaka: Kaum dass er wieder im Wagen saß, orderte er per Funk an, die Polizeiakten nach Informationen über Masakiri zu durchforsten und ihm die Ergebnisse auf den Schreibtisch zu legen. Der Tote war polizeilich nicht als Täter registriert, sonst hätte das Arakami-san vorhin sicherlich als Grund angegeben, die Untersuchungen des Todes bei Dezernat 5 zu belassen, aber so auffällig registriert wurden nur Verbrechen und Vergehen, nicht einfache Ordnungswidrigkeiten und eingestellte Verfahren. Trotzdem gab es natürlich auch über Ordnungswidrigkeiten Aufzeichnungen; die musste man eben nur für jeden Menschen einzeln zusammensuchen. Früher wäre das eine langwierige Sache gewesen, doch im Zeitalter elektronischer Datenverarbeitung war der Aufwand vernachlässigbar.
Der Inspektor war dementsprechend auch nicht überrascht, die gewünschten Informationen bei seiner Ankunft auf seinem Tisch vorzufinden. Er legte den Manila-Umschlag, den er von Arakami erhalten hatte, in seine Schublade und machte sich daran, die Ausdrucke in umgekehrt chronologischer Reihenfolge durchzugehen. Seine Hoffnung war, in der unmittelbaren Vergangenheit des Selbstmörders Hinweise auf psychische Auffälligkeiten zu finden, die eine Tendenz zu einem Suizid nahelegten.
Zu seinem Erstaunen fand sich in den letzten zwanzig Jahren von Masakiris Leben absolut nichts Auffälliges - Strafmandate wegen Falschparkens, eine Anzeige wegen Betrugs, die aber fallengelassen worden war, mehrere Strafzettel wegen Verschmutzung öffentlichen Eigentums. Alles Kleinkram und fast typisch für Gutverdiener. Erst die wirklich alten Akten waren aufschlussreicher, dann aber auch gleich auf eine Weise, die eigentlich nicht mehr misszuverstehen war.
Im Alter von 23 Jahren hatte Masakiri schon einmal versucht, Selbstmord zu begehen, und wie dieses Mal war es durch einen Sprung gewesen. Damals allerdings war es der Sprung vor eine U-Bahn gewesen, nicht der von einem Dach. Man hatte damals sein Leben retten können, und er war wegen "Eingriffs in den öffentlichen Personentransportverkehr" zu einem Bußgeld und Führerscheinentzug verurteilt worden. Wichtiger war allerdings, dass er bei der Vernehmung angegeben hatte, unter erdrückenden Schulden zu leiden und keinen anderen Ausweg mehr zu sehen. Irgendwie war er anscheinend noch einmal auf die Beine gekommen... nur um jetzt, in der gleichen Situation wie damals, zur selben Lösung zu greifen.
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