1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Toritaka atmete einmal tief durch. "Was daran ungewöhnlich ist?" stieß er hervor. "Wie sind sie ins Auto hineingekommen? Sie haben mir die Autoschlüssel heute vormittag mitgegeben, noch ehe sie wussten, wo der Wagen stand! Es war nicht abgeschlossen, oder?"
"Aber..." Arakamis Überraschung war selbst durch das Telefon deutlich zu spüren. "Meine Güte, sie haben recht. Mein Team musste den Wagen nicht aufbrechen. Er muss offen gewesen sein. Aber wieso..."
"Genau", sagte der Inspektor leise. "Wieso geht jemand von der Arbeit ins Parkhaus zu seinem Auto und schließt die Türe auf, wenn er eigentlich vorhat, sich vom Dach zu stürzen?"
Mittwoch, 7. April 2004, 9.07 Uhr
Superintendent Asashi blickte skeptisch auf den Bildschirm seines Laptops und sah von dort immer wieder zu Toritaka und Kakiden, die in seinem Büro Platz genommen hatten. Vor allem der Inspektor schien ihm Sorgen zu machen, wenn man das Stirnrunzeln richtig verstand, das er immer wieder aufsetzte. Schließlich aber lehnte er sich in seinem Sessel zurück, betrachtete noch ein letztes Mal den Monitor und wandte sich das vollends den beiden Beamten zu.
"Ihnen ist natürlich klar", sagte er, "dass das eine reichlich dürftige Indizienlage ist."
"Absolut", stimmte ihm Inspektor Toritaka zu. "Ich würde sogar soweit gehen, dass ich sage, wir haben noch nicht einmal eine Indizienlage. Alles, was wir im Moment haben, sind Widersprüche in der bestmöglichen Theorie über unseren Fall hier. Ich möchte nur darum bitten, diese Widersprüche mit den besten Mitteln aufzulösen, die uns zur Verfügung stehen."
Asashis Lippen wurden schmal. "Die sogenannten Widersprüche stützen sich auf die Aussage von jemandem, der einen Schrei gehört haben will und auf ein nicht abgeschlossenes Auto."
Der Inspektor hob eine Hand. "Und auf die Aussage des Vorgesetzten unseres Toten hier", sagte er, "dass er nicht der Typ für einen Selbstmord war. Mura-san mag kein Psychologe sein, aber als Personalchef darf man ihm einige Menschenkenntnis unterstellen."
"Mir gefällt das trotzdem nicht wirklich", gab der Superintendent zu bedenken. "An sich haben wir eine wirklich passable Theorie, mit der wir den Fall schnell abschließen könnten und damit der Familie des Toten weitere Unannehmlichkeiten ersparen würden. Sie wollen jetzt das alles in eine Richtung wenden, die noch sehr langwierig werden kann. Ich will nicht, dass unser Dezernat von den Medien zum Sündenbock gemacht wird."
"Wenn ich dazu etwas sagen dürfte", meldete sich Kakiden zaghaft zu Wort.
Asashi nickte ihm zu. "Ich bitte darum."
Mit einem kurzen Ruck beugte sich der Assistenzinspektor etwas vor. "Toritaka-san und ich haben heute früh bereits über die Umstände gesprochen", sagte er, "und wir sind beide der Ansicht, dass es vorerst nicht notwendig sein wird, die Familie von Masakiri in die Ermittlungen mit einzubeziehen. Wir möchten uns vorerst um die Frage der Fremdeinwirkung kümmern. Bisher gibt es ja noch keine Indizien dafür, allerdings gab es auch noch keine ernsthafte Auswertung der gesicherten Spuren. Ich wollte mich mit Dezernat fünf zusammentun - ein früherer Schulfreund von mir arbeitet in der Gerichtsmedizin und kann uns wahrscheinlich weiterhelfen."
"Wenn sie das diskret machen", meinte der Superintendent, "habe ich nichts einzuwenden. Und was werden sie tun, Toritaka-san?"
"Ich möchte mich auf ein mögliches Motiv konzentrieren", sagte der Inspektor. "Masakiri war ein nicht besonders erfolgreicher Anlageberater - wenn solche Leute in finanzielle Schwierigkeiten geraten, dann haben mit einiger Wahrscheinlichkeit auch einige ihrer Kunden Geld verloren, und das nicht zu knapp. Ich will mich unter seinen ehemaligen Kunden umsehen."
Etwas irritiert zog Asashi eine Augenbraue hoch. "Seine ehemaligen Kunden?" wollte er wissen. "Ich hoffe, sie haben nicht vor, unbescholtenen Geschäftsleuten auf den Kopf zuzusagen, dass sie sie für potentielle Mörder halten."
Toritaka musste unwillkürlich lächeln. "Sehr schmeichelhaft, dass sie mir so etwas zutrauen, Superintendent", sagte er. "Nein, ich wollte keine unbescholtenen Leute befragen. Aber Masakiri hat für ein Bankhaus gearbeitet, das schon einmal Probleme mit dem Gesetz hatte... eine Beamtin von Dezernat fünf hat mir den Tip gegeben, dass die Yoshioka-Bank in der Vergangenheit mit der Yakuza zu tun gehabt haben soll. Ich denke, für diese Kreise wird es nichts Neues sein, dass man sie für potentielle Mörder hält."
"Das beruhigt mich nicht wirklich", warf Asashi ein. "Wir sind hier nicht in Dezernat sieben, wo man täglich mit Schwerkriminellen zu tun hat. Ist ihnen das Risiko nicht zu groß?"
"Kaum, Superintendent", schüttelte der Inspektor den Kopf. "Für ein echtes Yakuza-Verbrechen ist dieser Fall hier nicht der richtige Stil. Viel zu unspektakulär. Wenn der Täter aus Yakuza-Kreisen stammt, dann hat er auf jeden Fall auf eigene Faust gehandelt. Und in diesen Kreisen geht man nicht gerade rücksichtsvoll mit Mitgliedern um, die so ungeschickt sind, polizeiliche Ermittlungen auf sich zu ziehen. Wenn nicht gerade ein Oyabun persönlich hinter dem Fall steht, wird man wahrscheinlich sogar mit uns kooperieren."
Der Superintendent nahm eine Hand vor den Mund und schien einen Moment nachzudenken. "Kakiden-san, lassen sie uns kurz alleine", sagte er dann.
Mit einem Nicken erhob sich der Assistenzinspektor. "Jawohl!" sagte er und verließ den Raum.
"Sie haben sich keine sehr ruhmreiche Aufgabe ausgesucht", fuhr Asashi fort, als Kakiden gegangen war. "Wenn sie keine Hinweise auf ein Fremdverschulden finden, haben sie eine Menge Aufwand betrieben und eine Menge Fliegen aufgescheucht, und alles für nichts. Und wenn sie Indizien finden, dass das hier kein Selbstmord, sondern ein Verbrechen war, dann werden sie den Fall an Dezernat fünf oder Dezernat sieben abgeben müssen. Ist ihnen das bewusst?"
"Voll und ganz, Superintendent", bestätigte Toritaka überzeugt. "Es geht mir auch nicht um Ruhm - ich will einfach nur, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ich habe das Gefühl, hier will uns jemand mit einem Selbstmord abspeisen, obwohl viel mehr dahintersteckt, und so einfach will ich es ihm nicht machen."
Der Superintendent runzelte besorgt die Stirn und beugte sich etwas vor. "Shingo-san", meinte er etwas leiser und in viel vertraulicherem Ton als zuvor, "sie wissen, dass ich eine Menge auf ihre Intuition gebe. Aber in diesem Fall haben wir wirklich absolut nichts handfestes. Bisher gab es noch nicht einen Hinweis, dass Masakiri da oben auf dem Dach nicht alleine war. Was macht sie so sicher?"
Schweigend blickte der Inspektor einen Moment lang zurück, ehe er antwortete. "Nur eine Ahnung, Asashi-san", sagte er und ließ sich nicht darauf ein, den Vornamen seines Vorgesetzten zu verwenden, obgleich das in Ordnung gewesen wäre, wenn beide allein waren und er schon den seinen benutzt hatte. "Der Fall fühlt sich für mich einfach nicht richtig an. Bitte, lassen sie es mich versuchen."
"Verdammt." Asashi seufzte. "Also gut, sie haben meine Zustimmung, Shingo-san. Aber keine unnötigen Risiken, haben sie mich verstanden?"
"Voll und ganz, Superintendent!" Toritaka stand ruckartig auf und salutierte. "Ich werde sie nicht enttäuschen."
Als der Inspektor das Büro seines Vorgesetzten endlich verlassen konnte, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Er hatte den anonymen Brief nicht erwähnen müssen, und wenn es irgendwie möglich war, wollte er es auch dabei belassen. Besser, wenn er im ganzen Fall nicht auftauchte. Wenn es irgendwann einmal zu einem Gerichtstermin kam und in den Akten tauchte ein anonymer Hinweis auf, war das quasi ein Freibrief für den Anwalt des Angeklagten, der Polizei schlampiges Arbeiten vorzuwerfen, einen Zeugen, der möglicherweise auch ein Entlastungszeuge hätte sein können, nicht richtig gesucht zu haben. Der nächste Schritt war dann der Antrag, das Verfahren auszusetzen, bis die Person gefunden war, und wenn das Gericht dem nicht zustimmte, der Antrag auf Revision des Verfahrens wegen "noch ausstehenden Entlastungsbeweisen". So etwas verschleppte einen Prozess immer endlos.
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