Trotzdem galt es, den offiziellen Anschein zu wahren. Der Inspektor trat an die Rezeption und zeigte auch dort seinen Polizeiausweis vor. "Toritaka, Dezernat für öffentliche Sicherheit", stellte er sich vor. "Wo finde ich das Yoshioka-Bankhaus?"
"Einundzwanzigstes Stockwerk, Inspektor-san", war die Antwort des Rezeptionisten. "Ich schalte ihnen Aufzug vier frei."
"Danke." Toritaka nickte dem Mann kurz zu. "Melden sie mich bitte oben an, ich muss den Geschäftsführer oder Personalchef sprechen." Der Satz war reine Formsache; oben würde man schon wissen, dass er kam, aber es war ihm wichtig, niemanden zu verunsichern, indem er nicht sagte, was er wollte.
Die Fahrt mit dem Aufzug dauerte erstaunlich lange, obgleich es sicherlich ein Expresslift war. Offensichtlich wollte man sich oben noch angemessen auf seinen Besuch vorbereiten und hatte die Rezeption um etwas Zeit gebeten. Der Inspektor fühlte sich fast geschmeichelt; man hielt ihn anscheinend für so wichtig, dass man ihm besondere Aufmerksamkeit widmen wollte. Vielleicht hatte der Polizist an der Eingangskontrolle aber auch einfach nur eine Bemerkung über den Ruf fallen lassen, den Toritaka in Polizeikreisen genoss. Nun ja, alles zu seiner Zeit.
Als er oben aus dem Lift trat, der sich direkt ins Foyer des Yoshioka-Bankhauses öffnete, lief bereits ein junger Mitarbeiter, vielleicht knapp über zwanzig Jahre alt, auf ihn zu. Zu seinem Ärger musste er bemerken, dass der Anzug des Bankers mit Sicherheit mindestens das Fünffache seines eigenen gekostet hatte, und dabei gab er sich eigentlich immer Mühe, zumindest einen angemessenen Eindruck zu machen. Die folgende äußerst tiefe und respektvolle Verbeugung allerdings entschädigte ihn ein wenig dafür.
"Guten Tag, Toritaka-dono", begrüßte der Bankmitarbeiter ihn, "mein Name ist Iyekawa, Public Relations." Er zog eine Visitenkarte aus dem Jackett und überreichte sie dem Inspektor mit beiden Händen. "Wie kann ich ihnen helfen?"
"Sie können es nicht", sagte Toritaka schroff und nahm die Visitenkarte nicht an. Viele Dinge in Japan gingen schneller, wenn man sich nicht mit unwichtigen Leuten aufhielt. "Ich bat darum, Geschäftsführer oder Personalchef ihres Unternehmens sprechen zu dürfen. Führen sie mich bitte zu einem der beiden."
Die überraschend informelle Umgangsweise des Polizisten verunsicherte Iyekawa offensichtlich. "Natürlich", meinte er zögernd, "sofort... wenn ich nur erfahren dürfte, um was es geht...?"
Toritaka trat einen Schritt näher an den Banker heran, was diesen noch nervöser werden und etwas zurückweichen ließ. "Ich führe Ermittlungen über einen Angestellten dieses Bankhauses durch", sagte der Inspektor, "und werde diese Untersuchung nicht gefährden, indem ich interne Informationen an unbefugte Personen weitergebe. Würden sie mich jetzt endlich zu Personalchef oder Geschäftsführer bringen oder soll ich beide aufs Dezernat rufen lassen?" Das war ein glatter Bluff - der Superintendent würde das bei einem Selbstmord nie genehmigen - aber die Drohung half fast immer.
So auch hier. "Folgen sie mir bitte", haspelte der junge Mann eilig hervor und wandte sich nach einer weiteren Verbeugung ab, um Toritaka den Weg zu zeigen. Natürlich brachte er ihn nur zum Personalchef und nicht zum Geschäftsführer - man kam nie sofort an die höchste mögliche Stelle in einer Hierarchie, wenn es Alternativen gab - aber es hatte weniger als fünf Minuten gedauert, hier hinzugelangen. Der Inspektor war fast stolz auf sich.
"Mura-san wird sie persönlich in sein Zimmer führen", sagte Iyekawa, als er den Polizisten durch einen langen Gang zu einem Großraumbüro geführt hatte, wo sicherlich einige hundert Angestellte Platz hatten. Der Inspektor war beeindruckt - so klein schien die Yoshioka-Bank nun doch nicht zu sein. Oder hatte sie einfach keinen kleineren Bürokomplex im Century Tower mieten können? Unwichtig, zumindest vorerst.
Der junge Banker wandte sich zum Gehen, und im selben Moment sah Toritaka, wie ein überraschend hochgewachsener Mann Mitte Vierzig, ebenfalls in einem ausgesprochen teuer aussehenden Anzug auf ihn zutrat. Er trug sein Haar in der selben langen Mähne, die der japanische Ministerpräsident Koizumi Junichiro berühmt gemacht hatte - offenbar setzten sich solche Trends auch in diesen Kreisen durch.
"Herzlich willkommen, Inspektor Toritaka-san", begrüßte der große Mann seinen Gast, verneigte sich nur leicht in seine Richtung und wartete auf die erwiderte Verbeugung vom Inspektor, ehe er ihm seine Visitenkarte mit beiden Händen reichte. "Ich bin Mura Nobuhide, Personalleiter dieses Bankhauses."
"Angenehm", gab Toritaka zurück, zog seine eigene Visitenkarte hervor und nahm die fremde in dem Moment, in dem er seine eigene überreichte. "Mein Name ist Toritaka Shingo, Inspektor vom Dezernat für Öffentliche Sicherheit der Metropolitan Police." Er besah die Visitenkarte des Personalchefs. "Ist das hier handgeschöpftes Papier? Es sieht nach ausgezeichneter Qualität aus."
Mura nickte. "Es ist handgeschöpft, aber nichts besonderes - die Visitenkarten von allen hier in der Bank werden in billiger Massenproduktion hergestellt." Er besah die Karte des Inspektors, die selbstverständlich nur aus einfacher dünner Pappe bestand. "Ist das hier ihre Bürotelefonnummer?" wollte er wissen.
Auch Toritaka nickte. "Ja, aber sie wird tagsüber auf meinen Funk umgeleitet", erklärte er. "Ich bin dort auch zu erreichen, wenn ich nicht im Dezernat bin." Damit war der Etikette Genüge getan - es war üblich, nach der gegenseitigen Vorstellung noch belanglose Fragen über die Visitenkarten auszutauschen, ein Überbleibsel aus den Tagen, als Männer von Stand noch persönliche Banner hatten und es höflich war, sein Interesse am Gegenüber zu zeigen, indem man nach der Symbolik des Banners fragte. "Können wir uns privat unterhalten?"
"Sicher, sicher." Mura verneigte sich nochmals leicht. "Gehen wir in mein Büro."
"Ausgezeichnet." Der Inspektor folgte dem Personalleiter, und der führte ihn zu einem Zimmer, das gegenüber dem Großraumbüro leicht erhöht lag und von dem aus man durch ein Fenster auf die Angestellten herabsehen konnte. Passend für einen Mann in seiner Position.
Mura bot dem Inspektor einen Sessel an und setzte sich selbst, sobald dieser Platz genommen hatte. "Was kann ich denn nun für sie tun?" wollte er wissen.
Mit etwas Mühe versuchte Toritaka sich im reichlich plüschigen Sessel aufrecht zu halten. "Es geht um einen Mitarbeiter ihrer Bank, Masakiri Satoshi", erklärte er. "Sagt ihnen der Name etwas?"
"Masakiri? Aber sicher doch." Mura öffnete ein wenig seine Armhaltung. "Er gehört zu unseren Vertrauensleuten - die Kundenberater, denen wir beim Aushandeln der Fondsverträge größtenteils freie Hand lassen. Soll ich ihn rufen lassen?"
"Das wird weder nötig noch möglich sein", gab der Inspektor zurück. "Masakiri-san ist tot."
Die Augen des Personalleiters weiteten sich in Überraschung, sehr wahrscheinlich echter Überraschung. "Tot?" stieß er hervor. "Meine Güte... wie konnte das passieren? Ein Unfall, nehme ich an?"
Toritaka lehnte sich leicht zurück und legte die Fingerspitzen seiner Hände aneinander. "Es wäre gelogen", erklärte er, "wenn ich behaupten würde, wir hätten vollständige Klarheit. Es zeichnet sich natürlich ein bestimmtes Bild ab, aber um das zu bestätigen, brauche ich Informationen über Masakiri-sans Person. Darum bin ich hier."
"Ich verstehe", nickte Mura, etwas gefasster als eben. "Was wollen sie wissen?"
"Zunächst einmal interessiert mich", sagte der Inspektor, "was sie mir über seine Lebensumstände erzählen können. War er ausgesprochen reich, oder hatte er ihres Wissens nach höhere Schulden? Wie sah es denn mit seiner Karriere aus?"
Der Personalleiter überlegte einen Moment. "Ich kann doch davon ausgehen", sagte er, "dass im offiziellen Bericht über den Tod keine Interna dieses Bankhauses auftauchen werden, oder?"
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