"Sechs-dreiundachtzig, verstanden", kam die Antwort. "Jemand hat sich beschwert, dass in einem Parkhaus eine Autoalarmanlage losgegangen ist und will direkt vorher einen Schrei und ein lautes Krachen gehört haben. Verdacht auf bandenmäßigen Vandalismus, Verstärkung von Vier ist unterwegs. Ende."
Der Inspektor warf einen kurzen Blick auf das Navigationssystem in seinem Wagen, auch wenn das kaum notwendig gewesen wäre. Im Planquadrat C-13 gab es nur ein Parkhaus: das große elfstöckige, welches zum nahen Century Tower gehörte. Es lag im Stadtteil Bunkyo - ein seriöses Geschäftsviertel - was bedeutete, die Autos dort waren allesamt ausgesucht teuer und edel, weshalb die Parkhäuser gut von privaten Sicherheitsdiensten bewacht wurden und gewöhnlich keine polizeiliche Hilfe benötigten. Allerdings... bandenmäßger Vandalismus, das konnte bedeuten, dass eine der gefährlicheren Straßengangs unterwegs war, und die hatten durchaus die Mannstärke und die Logistik, um sich mit ein paar Mann Sicherheitsdienst anzulegen. Gegenüber der Polizei waren sie allerdings oft etwas vorsichtiger, was daran lag, dass bei einer Notlage von Polizeibeamten innerhalb von zehn Minuten überall in Tokyo ein Sondereinsatzkommando eingreifen konnte. Niemand wollte ein Sondereinsatzkommando am Hals haben.
Toritaka ließ die Seitenscheibe seines Autos herunter, zog das Blaulicht aus der Mittelkonsole seines Wagens hervor, schaltete es ein und pflanzte es aufs Dach, während er in Richtung des gemeldeten Notrufs fuhr. Wenn Verstärkung vom Dezernat 4 angefordert worden war, der Streifenpolizei, die auch die Kobans besetzte, dann würden die wahrscheinlich erst in etwa zehn Minuten auftauchen, wenn sich zwei oder drei Wagen gesammelt hatten. Ganz alleine am Ort eines vermuteten Gangverbrechens aufzutauchen, wäre eine schlechte Idee gewesen, weshalb der Inspektor schon einen Block früher als nötig abbog und den Koban ansteuerte, von dem der Funkruf gekommen war.
Er hielt vor dem kleinen Häuschen und ließ die Seitenscheibe herunter. "Einsteigen", sagte er zum ersten der beiden Polizisten, der ihm entgegenkam, wobei er ihm seinen Ausweis mit der Dienstmarke des Inspektors entgegenhielt. Der Mann, ein hagerer, dürrer Seniorpolizist, salutierte kurz, ehe er hastig die Tür aufriss und in den Honda sprang. Toritaka stieg sofort wieder aufs Gas, und bis sein Beifahrer sich angeschnallt hatte, war er auch schon auf dem halben Weg zum Parkhaus unterwegs.
"Iburo Tomoki", stellte der Polizist sich vor. "Bei mir ging der Notruf ein."
"Toritaka Shingo", gab der Inspektor zurück. "Ist der Zeuge glaubwürdig?"
Iburo nickte. "Ein Student von der Metropolitan-Universität", berichtete er. "Personalien werden gerade aufgenommen."
"Ausgezeichnet." Toritaka steuerte einen Platz am Straßenrand kurz vor der Einfahrt des Parkhauses an - um diese Uhrzeit war die Zufahrt schon lange geschlossen. "Wir werden nicht warten, bis die Verstärkung da ist. Sie sind an der Waffe ausgebildet, Iburo-san?"
Der Polizist nickte. "Jawohl, Inspektor-san", bestätigte er, "aber im Dienst an einem Koban..."
"Ich weiß", unterbrach ihn Toritaka, "sie tragen keine bei sich. Nehmen sie sich die Glock in meinem Handschuhfach. Munition liegt in den Magazinen direkt daneben."
Langsam parkte der Inspektor den Wagen und sah Iburo zu, wie er die Waffe nahm, kontrollierte, sicherte und dann lud. Er steckte sie in seinen Gürtel, und Toritaka nickte. "Gut", sagte er, "sie haben sie eingesteckt, und da bleibt sie auch, bis ich etwas anderes sage." Die Glock war keine offizielle Dienstpistole, sondern ein Geschenk, das Toritaka beim Besuch einer ausländischen Polizeitruppe erhalten hatte, und er hätte es nicht gerne gesehen, wenn dieses Geschenk wirklich jemanden umgebracht hätte.
Beide Polizisten verließen den Wagen, Toritaka schaltete die Wegfahrsperre ein, dann gingen sie die Auffahrt ins Parkhaus hinauf. Schon hier war zu hören, dass die Meldung nicht einfach frei erfunden gewesen war: das schrille Fiepen einer Autoalarmanlage hallte aus der Entfernung zu den beiden. Toritaka sah auf die Uhr: Einunddreißig Minuten nach Elf. "Um wieviel Uhr genau wurde das hier gemeldet?" erkundigte er sich.
"Dreiundzwanzig Uhr und... dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Minuten", antwortete Iburo. "Ich habe den Ruf unverzüglich weitergeleitet. Warum fragen sie?"
"Ich will abschätzen", erklärte der Inspektor, "ob unsere Täter noch hier sein könnten."
Der Polizist schwieg kurz und lauschte. "Außer dem Alarmton höre ich nichts."
Zustimmend nickte Toritaka. "Das bedeutet aber nicht", sagte er, "dass dort niemand ist. Es kann auch bedeuten, dass jemand der Polizei eine Falle stellen will. Und davon gehe ich hier aus."
"Wieso das?" Iburos Gesicht zeigte deutliche Besorgnis.
"Kein Licht", antwortete der Inspektor. "Es muss hier drinnen einen Sicherheitsdienst geben, der einen Autoalarm hört, ehe jemand außerhalb des Parkhauses davon etwas bemerkt. Im Polizeifunk kam keine Meldung, dass der Sicherheitsdienst hier im Parkhaus sich gemeldet hätte, also ist anzunehmen, dass das Wachpersonal hier die Sache selbst in die Hand nehmen will. Aber inzwischen sind mindestens acht Minuten vergangen, seitdem der Autoalarm gemeldet wurde. Genug Zeit für den Wachdienst, wenigstens das Licht einzuschalten, oder?"
Der rangniedere Polizist schluckte und legte eine Hand auf die Pistole in seinem Gürtel. "Was... was machen wir jetzt?" wollte er wissen.
"Licht", antwortete Toritaka, trat auf das Wachbüro direkt an der Einfahrtschranke zu und klopfte an die Milchglasscheibe am Eingang.
Nichts geschah.
Der Inspektor klopfte nochmal, und als niemand öffnete, ging er einen Schritt zurück, holte mit dem Fuß aus und trat kräftig mit der Ferse gegen das Schloss. Klirrend brach das dünne Metall auseinander und die Türe flog auf. Toritaka sah hinein: Leer. Ein Griff nach rechts schaltete die kleine Lampe im Büro ein. Es war ordentlich aufgeräumt, keine Anzeichen für einen Kampf waren zu erkennen. An der Rückwand hing der Dienstplan der Sicherheitsfirma, die für das Parkhaus zuständig war. Für montags war keine Nachtschicht eingetragen.
"Entwarnung", seufzte der Inspektor. "Das Wachpersonal für heute abend wurde wohl bei den letzten Budgetkürzungen der Stadt eingespart. Verfluchte Wirtschaftskrise." Er sah sich kurz um, bis er den Hauptschalter für das Licht im Parkhaus entdeckt hatte und schaltete ihn ein. "Gehen wir."
"Jawohl." Iburo war nun wieder sichtlich wohler zumute. "Wenn sie gestatten, Inspektor-san, der Alarm scheint nicht wirklich von hier drinnen zu kommen. Vielleicht hat das Parkhaus einen Hinterhof?"
Toritaka nickte. "Gehen wir doch einmal nachsehen", sagte er und wandte sich in Richtung Treppenhaus um. Eine Türe mit der Aufschrift 'Personal' kam ihm vielversprechend vor; er rüttelte daran, aber sie war abgeschlossen. Er überlegte kurz. "Es muss einen Notausgang geben", sagte er dann, "der hinten zur Feuerwehrzufahrt führt und der nicht abgeschlossen werden darf. Suchen wir ihn."
Beide Polizisten schritten im nun hell erleuchteten Parkhaus nebeneinander her, und es dauerte keine zwei Minuten, ehe sie die Ausschilderung zu einem Fluchtweg gefunden hatten. Zur Freude des Inspektors ging dieser ganz nach außen, wo er auf einer metallenen Feuertreppe im amerikanischen Stil endete. Das Geräusch des Autoalarms kam unzweifelhaft von hier unten. Ein orangenes Blinklicht, das neben ihm aufflammte, als er die letzte Tür öffnete, machte ihm klar, dass er wahrscheinlich soeben den Feueralarm des Parkhauses aktiviert hatte, aber das war kein Problem. "Iburo-san", sagte er, "sie haben ihr Funkgerät dabei?"
Der hagere Polizist nickte. "Natürlich."
"Dann melden sie hier einen irrtümlichen Feueralarm", ordnete Toritaka an. "Die Feuerwehr braucht nicht auszurücken. Und fragen sie nach, wo die Verstärkung von der Vier bleibt. Ich gehe runter."
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