Ohne auf den zweiten Mann zu warten, schritt der Inspektor die Feuertreppe herunter. Dort unten war offensichlich niemand. Die blinkenden Scheinwerfer eines Autos waren schon von hier leicht zu sehen und erhellten den ganzen Platz halbwegs passabel. Es gab keine Versteckmöglichkeiten in der Gegend. Keine Gefahr.
Je näher der Inspektor dem Auto kam, desto deutlicher konnte er erkennen, dass der Wagen schwer beschädigt war. Es handelte sich um einen Kombi, wahrscheinlich einen Dienstwagen der Parkhausverwaltung, und jemand hatte die Frontscheibe eingeschlagen und das Dach von oben eingedrückt. Als habe ein Sumoringer darauf den Bogentanz vorgeführt, kam es Toritaka seltsamerweise in den Sinn, doch dann war er nahe genug, und seine Augen hatten sich an die anderen Lichtverhältnisse genügend gewöhnt, dass er Details erkennen konnte, und sofort war jeder ansatzweise amüsante Gedanke aus seinem Kopf verschwunden.
Die Person, die das Auto demoliert hatte, war noch hier. Sie lag auf dem Auto... eher darinnen, denn offenbar war sie von oben mit solcher Wucht auf dem Auto aufgeschlagen, dass sie das Hardtop-Dach teilweise zertrümmert hatte. Blut sickerte langsam über die unter dem Aufprall geborstene Frontscheibe. Das Blinklicht der Autoalarmanlage tauchte alles in ein gespenstisches Flackern.
Tokyo, dachte Toritaka. Jemand begeht Selbstmord, und man meldet eine Ruhestörung und Vandalismus.
Er blieb stehen, steckte die Hände in die Manteltaschen, und da stand er auch noch, als Minuten später endlich die Verstärkung vom Dezernat Vier eintraf.
Dienstag, 6. April 2004, 11.16 Uhr
In der "Metropolitan Police" waren die Aufgabenbereiche klar verteilt, und jedes Dezernat arbeitete nur an Fällen, für die es auch direkt zuständig war. Aus diesem Grund kam man bei der Polizeiarbeit gewöhnlich nicht mit Kollegen von anderen Dienstbereichen in Kontakt - mit einer Ausnahme: Dezernat 5, die Kriminalinspektion, musste immer dann hinzugezogen werden, wenn die auch nur entfernte Möglichkeit bestand, dass die anderen Dezernate bei ihrer Arbeit auf ein Kapitalverbrechen gestoßen waren, und das war bei einem Leichenfund grundsätzlich der Fall. Daher nannte man im internen Polizeijargon Tote "Fünfer", und die einzigen, die das nicht taten, waren vom Dezernat 7, der Abteilung für Organisierte Kriminalität.
Inspektor Toritaka hatte noch am vorherigen Abend angeordnet, den Werkshof des Parkhauses abzusperren, in welchem man den Toten entdeckt hatte, und ein Sicherungskommando der Kriminalinspektion hatte die Leiche auch unverzüglich abtransportieren lassen und die erste Beweisaufnahme durchgeführt. Allerdings war das wirklich nur oberflächlich geschehen, und als Toritaka verwundert nachgefragt hatte, warum man denn noch keine richtige Spurensicherung durchführte, war die Antwort gewesen, dass man die wegen schlechter Lichtverhältnisse auf den kommenden Morgen verschob. Das war natürlich eine verdammte Ausrede - Dezernat 5 konnte innerhalb von einer halben Stunde den ganzen Innenhof mit Flutlicht ausstatten, wenn es notwendig war. Wahrscheinlich war Seniorsuperintendent Shirage, Leiter der Kriminalinspektion, einfach schon schlafen gegangen, und niemand hatte ihn so spät noch wecken wollen.
Pünktlich morgens um acht allerdings hatte die Tatortsicherung begonnen, und Toritaka hatte noch auf der Hinfahrt in sein Büro den Funkruf erhalten, dass Superintendent Asashi ihm den Fall von gestern abend vorläufig zugeteilt hatte und er die Ermittlungen leiten würde, wenn sich nicht herausstellte, dass ein Verbrechen vorlag. Für Selbstmörder gab es keine klaren Zuständigkeiten; normalerweise erledigte bei einem Selbstmord das Dezernat den Fall, das mit ihm zuerst in Kontakt gekommen war. Stürzte sich jemand mit seinem Auto von einer Brücke, war Dezernat 2, die Verkehrspolizei, für ihn zuständig; die meisten Selbstmörder wurden allerdings von der Streifenpolizei von Dezernat 4 entdeckt. Leute, die sich vor U-Bahnen warfen, fielen normalerweise in die Kategorie, die die Öffentliche Sicherheit übernahm, und Ruhestörung und Vandalismus durch einen Selbstmörder... nun ja, das war wohl auch eine Sache der Öffentlichen Sicherheit.
Trotz allem war der Inspektor zuerst einmal in Ruhe ins Hauptpräsidium gefahren, hatte sich nach den Eingängen von gestern nacht erkundigt, hatte seine Mails abgefragt (und zufrieden die Empfangsbestätigung von Mainichi gelesen), Assistenzinspektor Kakiden die Aufgaben für den Tag zugeteilt, sich bei Superintendent Asashi gemeldet, nach Rückmeldung für den gestrigen Einsatz gefragt und sich dann noch die neue Zuteilung schriftlich bestätigen lassen. Als er mit allem fertig war, war es fast halb elf Uhr gewesen, und dann war noch einmal eine Viertelstunde für die Fahrt nach Bunkyo verstrichen... und noch einmal eine halbe Stunde, bis er sich durch das Verkehrschaos gekämpft hatte, das durch die Schließung des Parkhauses entstanden war. Manchmal hatten die öffentlichen Verkehrsmittel doch ihre Vorzüge.
Dementsprechend war die Spurensicherung so gut wie abgeschlossen, als Toritaka endlich ankam, und es waren nur noch einige Seniorpolizisten mit der Katalogisierung der gefundenen Spuren beschäftigt. Die Leiche war abtransportiert worden, und zahlreiche Kreidemarkierungen waren auf dem zerstörten Kombi und dem Boden aufgebracht worden. Der Inspektor trat auf einen der Beamten zu und zückte seinen Dienstausweis. "Toritaka, Dezernat sechs", sagte er. "Ich leite diesen Fall. Wo ist der diensthabende Inspektor der Spurensicherung hier?"
"Auf dem Dach", kam die Antwort. "Arakami-san wollte sich persönlich noch den Ort ansehen, von dem der Körper herunterkam."
"Verstehe." Toritaka nickte. "Könnten sie ihn herunterrufen?"
"Das ist unmöglich", ertönte in diesem Moment eine ernste, aber freundliche Stimme in seinem Rücken, und als er sich umdrehte, stand dort eine Frau Anfang Dreißig, recht elegant in Bluse, Hosenrock und Blazer gekleidet - irgendwie overdressed für ein Parkhaus, kam es Toritaka in den Sinn. Sie trug ihr kastanienfarbenes Haar schulterlang nach hinten gekämmt, und ihre Augen wurden von einer kleinen, eckigen Brille ohne Rahmen umrandet.
Der Inspektor verschränkte die Arme. "Und können sie mir auch sagen", wollte er wissen, "warum der gute Mann nicht herunterkommen kann?"
"Weil es erstens keinen Mann dieses Namens gibt", war die Antwort, "und weil zweitens Arakami-san bereits hier unten ist. Wenn ich mich vorstellen darf - Inspektor Arakami Shige, Dezernat 5, Abteilung Forensik." Die Frau streckte ihre Hand aus.
"Inspektor Toritaka Shingo." Toritaka nahm die Hand nicht an - er hatte eine tiefsitzende Abneigung gegen Leute, die sich im Dienst zu Witzeleien genötigt sahen - und zog stattdessen die schriftliche Zuteilung seines Superintendenten aus dem Mantel. "Ich wurde diesem Fall hier überstellt."
"Angenehm", gab Arakami zurück, und zur Überraschung ihres Kollegen lächelte sie. "Ich habe schon einiges von ihnen gehört, Toritaka-san."
Der Inspektor zog die Augenbrauen hoch. "Was wollen sie damit andeuten?" meinte er eine Spur unfreundlicher, als er es vorgehabt hatte.
Wieder überraschte ihn die Reaktion der Frau. "Sie gehören zu Tokyos engagiertesten Polizeibeamten", sagte sie. "Ich bin froh, dass sie die Untersuchung leiten - da kann ich mir sicher sein, dass die Arbeit der Forensik auch in allen Details berücksichtigt wird. Sie wirken wie ein Mann, der nicht nach offensichtlichen Lösungen, sondern nach dem großen Ganzen sucht."
"Vorerst einmal wüsste ich gerne", warf Toritaka ein, "ob ich überhaupt einen Fall habe oder ob Dezernat fünf die Ermittlungen an sich ziehen wird." Er war leicht gereizt, dass ihn diese Frau da so einfach vor anderen Beamten lobte - im Dienst hatte man sich unnötige Gefühlsäußerungen seinen Kollegen gegenüber besser zu verkneifen. "Gibt es Anzeichen für ein Gewaltverbrechen?"
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