1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Zufrieden lehnte sich Toritaka zurück. Wie es aussah, konnte er auf die Befragung der Familie des Selbstmörders verzichten. Wenn Masakiri schon einmal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, war das hinreichend für die Annahme, dass er es auch ein zweites Mal versucht haben konnte. Das Motiv war damit belegt, und solange es keine Hinweise auf irgend eine Fremdeinwirkung gab, war der Fall klar. Jetzt musste der Inspektor nur noch warten, bis der vorläufige Bericht von der Forensik kam.
Zu seiner Freude waren die ersten Unterlagen schon am Nachmittag auf seinem Schreibtisch. Zwar gab es noch keinen Autopsiebericht, aber die Spurensicherung bestätigte, dass man keine Spuren von anderen Personen im Dachgeschoss des Parkhauses entdeckt hatte, die nicht von den üblichen Parkhausbenutzern stammen konnten. Im Innenhof war eine zerknüllte Zigarettenschachtel Marke "Davidoff" gefunden worden, auf der allerdings nur Masakiris Fingerabdrücke gewesen waren - als hätte er erst die Schachtel heruntergeworfen und wäre dann hinterhergesprungen.
Auch der Mercedes des Toten war inzwischen aufgetaucht - er hatte auf dem obersten Parkdeck gestanden, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, wo er heruntergesprungen sein musste. Es gab keine Kratzer oder Schäden daran, nicht einmal solche, die das Spurensicherungsteam selbst verursacht hatte (was durchaus einmal passieren konnte), und im Inneren waren auch keine wirklich interessanten Dinge aufgetaucht. Es gab immer noch keinen Abschiedsbrief, keine gekritzelten Notizen, die auf Gläubiger oder Schulden hinwiesen, nur ein Aschenbecher voller Zigarettenkippen der Marke "Davidoff" und ein Aktenkoffer mit darin befindlichem Laptop. Die Untersuchung der Daten auf dem Laptop stand noch bevor.
Zufrieden heftete Toritaka alle Sachen in eine Akte und legte auf seinem PC eine Falldatei an, für die er die elektronischen Kopien der Dokumente anforderte. Dann öffnete er den Manilaumschlag, in dem sich die persönlichen Gegenstände Masakiris befanden, die man direkt an seinem Körper gefunden hatte, gab ihnen Aktenzeichen und dokumentierte sie in der Falldatei, damit alles übersichtlich gespeichert werden konnte. Es war nicht übermäßig viel, so dass der Inspektor mit einiger Sicherheit davon ausgehen konnte, dass er heute endlich einmal zu einer normalen Abendessenszeit zuhause war.
Um kurz nach 17 Uhr hatte er die letzten Arbeiten abgeschlossen, und rein der Form halber warf er noch einen Blick in sein Hauspostfach am Eingang seiner Abteilung. In der Hauspost fanden sich nie irgendwelche fallrelevanten Sachen - was seine Kollegen aus anderen Dezernaten ihm dienstlich schickten, kam direkt auf seinen Schreibtisch, und so wurden eigentlich nur Ankündigungen von Geburtstagsfeiern, Polizeigewerkschaftsversammlungen und Ähnliches auf diesem Weg zugestellt. Theoretisch wären hier auch alle Schreiben angekommen, die jemand unten im Präsidium auf seinen Namen abgegeben oder auf seinen Namen ans Präsidium geschickt hätte, aber das war in seiner Dienstzeit noch nie vorgekommen - er war nie für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig gewesen, und Anzeigen, die die Öffentliche Sicherheit betroffen hätten, gingen zu fast hundert Prozent bei der Streifenpolizei in Dezernat 4 ein, weil das die Polizisten waren, die mit den normalen Leuten am meisten zu tun hatten.
So dachte sich Toritaka auch nichts besonderes bei dem Brief ohne Absender in dem einfachen weißen Umschlag, den er ohne Briefmarke aus dem Fach zog und beiläufig aufriss. Das Briefpapier war überraschend dick und fest, was aber immer noch nichts besonderes war, da Feiern oft auf Karten angekündigt wurden. Erst als er das Papier auf dem Weg zurück ins Büro auffaltete, stutzte er und blieb verwundert stehen.
Der Brief war mit einem Kalligraphiepinsel geschrieben worden, das sah man auf den ersten Blick. Die Handschrift war zierlich, aber von der eigentümlichen Kraft, die Schriftzeichen erhielten, wenn jemand mit Verständnis für die klassische Schreibkunst sie zu Papier brachte. Diese Nachricht war nicht einfach nur heruntergeschrieben, sondern mit höchster Präzision gemalt worden. Toritaka war kein Experte dafür, aber so wie er Manga von klassischen Gemälden unterscheiden konnte, war er in der Lage, einfache Schrift und kalligraphische Kunst auseinanderzuhalten.
Die Nachricht selbst war allerdings noch überraschender als die Form:
"Ein Mensch,
der in den Tod geht,
schreit aus Angst vor dem Tod.
Doch ein Mensch,
der zu leben fürchtet,
und nicht zu sterben,
warum sollte der schreien?"
Ein Gedicht? Oder was sollte das sonst sein? Er besah noch einmal Umschlag und Brief. Kein Absender. Eigenartig. Nachdenklich brachte der Inspektor den Brief mit auf sein Büro, und aus einem reinen Impuls heraus zog er aus seinem Schreibtisch eine der Plastiktüten hervor, die man zum Aufheben von Beweismaterial verwendete und steckte das Schreiben mitsamt Umschlag hinein. Vielleicht wurde es noch einmal wichtig, näheres über den anonymen Absender zu erfahren; man konnte ja nie wissen.
Nachdem Toritaka die Tüte verschlossen hatte, dachte er über das seltsame Gedicht nach. Das konnte sich doch nicht auf seinen momentanen Fall beziehen... oder? Erst gestern abend war der Todesfall überhaupt erst geschehen, und offiziell gehörte der Fall ihm erst seit heute früh. Wer hätte sich denn so schnell über seine Beteiligung informieren und ihm eine Nachricht schicken sollen? Nein, das war eigentlich nicht möglich. Aber der Inhalt...
Der Inspektor öffnete noch einmal die Datei, wo er alles aufgezeichnet hatte, was mit dem Fall zu tun hatte. Ganz am Anfang war die erste Anzeige verzeichnet, die gestern abend gemacht worden war - die "Ruhestörung". Ein Zeuge hatte einen Schrei gehört, unmittelbar ehe die Alarmanlage des Autos losgegangen war, und der Aussage nach war das ein langgezogener Angstschrei gewesen. Er musste wohl von Masakiri gekommen sein, der während seinem Sturz geschrieen hatte... und dieses mysteriöse Gedicht hatte recht, warum sollte jemand vor Angst schreien, der sich freiwillig in den Tod stürzte? Aber das war nicht eindeutig - wenn ihn im letzten Moment seines Lebens doch noch die Panik übermannt hatte, oder wenn er jemand war, der nicht stumm aus der Welt scheiden wollte... Schreie von Selbstmördern waren kein guter Anhaltspunkt...
Genau in diesem Moment fiel Toritaka auf, dass es noch ein weiteres Indiz gab, dass mit diesem Selbstmord etwas nicht stimmte. Wenn er sich nicht irrte.
Mit einem Ruck zog er die Schublade seines Schreibtischs wieder auf und fischte den Manilaumschlag heraus, in dem sich Masakiris Sachen befanden. Er öffnete ihn und leerte den Inhalt auf der Tischplatte aus. Tatsächlich... kein Irrtum. Ein Blick auf den Bildschirm in die Akte bestätigte noch einmal den Widerspruch, und alles, was er jetzt noch wissen musste, konnte er mit einem Telefonanruf klären. Er nahm den Hörer seines Apparates ab und drückte die 0 für die Zentrale. "Toritaka hier", sagte er in den Hörer, "Dezernat sechs. Bitte Dezernat fünf, Inspektor Arakami."
Es dauerte einige Sekunden, bis die Verbindung stand. "Guten Abend, Toritaka-san", meldete sich die Ermittlerin vom anderen Ende der Leitung. "Sie haben Glück, mich noch anzutreffen - eben wollte ich gehen."
"Es wird nicht lange dauern", versprach Toritaka. "Ich brauche nur eine Auskunft zu den Ermittlungen von Dezernat 5. Sie haben doch das Auto von Masakiri durchsucht, nicht wahr?"
"Richtig", bestätigte Arakami. "Beziehungsweise, nicht ich persönlich, aber Assistenzinspektor Kor...."
"Darum geht es mir nicht", unterbrach der Inspektor sie aufgeregt. "Sie schrieben, das Auto sei unbeschädigt gewesen, unbeschädigt in jeder Hinsicht, obwohl sie es durchsucht haben, korrekt?"
Einen Moment herrschte erstauntes Schweigen in der Leitung. "Was ist daran so ungewöhnlich", wollte die Frau dann wissen. "Mein Team arbeitet vorsichtig und rücksichtsvoll."
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