Es ist nicht völlig zu vermeiden gewesen, dass manche Gedanken und Betrachtungen aus den ersten Kapiteln erst im letzten Kapitel in ihrem Zusammenhang und Wert verstanden werden können. Wäre ich umgekehrt vorgegangen, dann hätte ich schon von Anbeginn einen Erfahrungsreichtum voraussetzen müssen, wie er aus meiner Darstellung erst von Kapitel zu Kapitel wachsen soll. Wer jedoch weniger Geduld mit Einzelheiten aufbringt und es vorzieht, vorab logisch zu erkunden, ob die von mir entwickelte Begrifflichkeit genügend Tragfähigkeit aufweist, um überhaupt Erfahrenes in sich zu fassen, der soll sich nicht davon abhalten lassen, mit dem letzten Kapitel zu beginnen. Ein solches Vorgehen birgt eigene Vorteile für das Verständnis. Und vielleicht dient es einer kreativen Auseinandersetzung, dass ich das Ergebnis meiner Spurensuche in aller Kürze den folgenden Ausführungen über das „Leib-Haftige“ bereits hier vorausschicke:
Wenn es aus der Perspektive der menschlichen Kreatur so etwas wie das Grundunrecht unseres Lebens, das Kernproblem der Sünde, gar das Grundübel der Schöpfung, die Wurzel alles Bösen geben sollte, so handelt es sich um die Tatsache, dass ein jeder Mensch zunächst zum Ersatz für andere Menschen geboren zu sein scheint und dann doch darunter zu leiden hat, dass er ebendieser Ersatzfunktion nicht gerecht zu werden vermag. Darin liegt zweifellos eine grundlegende Paradoxie, auf die sich die unschuldige „Schuld“ oder die schuldige Unschuld des menschlichen Lebens gründet. Wie wir damit umgehen, ist das existenzielle Problem, das wir nicht mehr abschütteln können, nachdem wir erst einmal ungefragt gezeugt und geboren sind. Statt uns aber wie Kaninchen zu verhalten und darauf zu starren, als seien wir jenseits von Eden auf die Schlange gestoßen, also statt die Infragestellung unseres Seins als ein Übel zu betrachten, ist es auch möglich, dass wir einander beistehen, um sie gemeinsam als die Ironie unseres Schicksals verstehen zu lernen. Das verlangt freilich Einigkeit im Humor, ist also mit harter Arbeit verbunden.
Wie immer aber diese Arbeit jedem einzelnen von uns gelingt - in jedem Fall ist unser Leben einer unvollendbaren musikalischen Improvisation vergleichbar: Ihre Themen ergeben sich aus dem ungelebten Leben unserer Vorfahren; die Rhythmik ergibt sich aus der zeitlichen Relation unseres jeweiligen Lebensalters zur Lebenssituation der Vorfahren , die Instrumentalisierung aus der Zuordnung zu unseren Stellvertretungsaufgaben; die Komposition folgt dem Prinzip der Komplementarität. Und alles zusammen hat, wie es nun einmal der Improvisation beim Musizieren eigen, etwas traumartig Schlafwandlerisches.
2 Kindheit und Kindschaft
2.1 Vier Kinderszenen
Eine Patientin kam mit einem Säugling, der ein halbes Jahr alt war, zur Therapiesitzung. Das Gespräch kam auf den Vater des Kindes. Sobald sie sich über diesen Mann beklagte, fing es an zu schreien. Das wiederholte sich mehrmals. Ich wies die Patientin darauf hin. Anfangs glaubte sie mir nicht, sondern hielt den zeitlichen Zusammenhang für „zufällig“. Schließlich akzeptierte sie die Übereinstimmung unter großer Überraschung und war auch bereit, meine Deutung anzunehmen. Ich sagte ihr, das Kind ergreife in diesem Raum Partei für den Vater und tue, was er hier nicht tun könne, weil er abwesend sei: Es äußere Protest gegen dessen Abwertung.
Eine andere Patientin kam mit ihrem Sohn im Alter von anderthalb Jahren. Auch in ihrer Ehe gab es Spannungen, und sie erwog die Trennung. Als sie darauf zu sprechen kam, erhob sich das Kind, das zunächst friedlich am Boden gespielt hatte, ging zur Tür des Therapieraums und versuchte, sie zu öffnen und das Zimmer zu verlassen. Ich teilte ihr meine Beobachtung mit und erläuterte sie mit der Bemerkung, anscheinend drücke das Kind auf seine Weise aus: „Bevor der Vater gehen muss, gehe lieber ich.“ Die Patientin war zwar erschrocken, wehrte sich aber nicht gegen diese Deutung, die ihr einleuchtete.
Eine weitere Patientin war mit ihrem ersten Sohn, der schon fast drei Jahre zählte, zur Therapie gekommen. Ich kannte ihn gut und hatte in früheren Sitzungen sein Vertrauen gewonnen. Da ich während der Arbeit, die den Problemen der Mutter galt, zuweilen mit ihm Ball gespielt hatte, kam er sonst gern mit und zeigte sich immer sehr geduldig, wenn sie ihn nicht anderweitig unterbringen konnte. Diesmal war die Situation zum ersten Mal anders. Er quengelte von Anfang an und ließ seiner Mutter keine Ruhe, sondern wiederholte immer von neuem den Wunsch, zum Auto zu gehen und nach Hause zu fahren. Erst nach gut einer halben Stunde änderte sich sein Verhalten von einem Augenblick zum anderen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Patientin entschlossen, ein Problem anzusprechen, das ihr schon lange quälend auf der Seele lag und das sie bislang ausgespart hatte. Kaum war das Problem ausgesprochen, wurde das Kind so friedlich wie gewohnt. Meine Deutung, dass er die Angst der Patientin vor der Eröffnung ausgedrückt habe, fand die Patientin plausibel.
Die nächste Szene will ich ausführlicher schildern: Ein Paar kam wegen erheblicher psychischer Probleme des Mannes zur zweiten Sitzung. Der Anlass einer kürzlichen Eskalation des Konflikts ihrer Partnerschaft war zuvor noch nicht angesprochen worden. Das Paar hatte die beiden Kinder im Alter von sechs und acht Jahren mitgebracht. Als die Sitzung beginnen sollte, erklärten die Eltern den Kindern, dass sie weiter im Wartezimmer spielen sollten, aber doch jederzeit nachkommen könnten. Im Sitzungsraum äußerte ich die Vermutung, dass sie die Kinder beruhigen wollten für den Fall, dass diese angesichts der neuen Umgebung im Wartezimmer Angst bekämen, was sie bestätigten. Daraufhin eröffnete ich ihnen, dass nach all meiner Erfahrung nicht die Angst der Kinder der Grund sein werde, wenn sie kämen, sondern die Angst der Eltern: Die Kinder kommen immer, sobald es Anlass gibt, die Eltern zu schützen. Das Paar nahm meine Bemerkung als Scherz auf, und beide reklamierten einhellig, dass das Wartezimmer ja außer Hörweite liege. Im weiteren Verlauf geschah aber etwas, was sie eines Besseren belehrte:
Ungefähr zwanzig Minuten nach Beginn der Sitzung gab sich der Ehemann plötzlich einen sichtlichen Ruck und kündigte an, er werde jetzt endlich sein Schweigen brechen und über die jüngsten Ereignisse in seiner Ehe reden. Bevor er jedoch beginnen konnte, kamen die Kinder in den Therapieraum und wandten sich ihrer Mutter zu. Ich schaute den Mann an, und er schaute verblüfft zurück. Nachdem die Kinder das Zimmer verlassen hatten, berichtete er, dass seine Frau ihn mit einem gemeinsamen Freund betrogen habe. Die Tochter hatte unmittelbar zuvor eine in Symbole gekleidete Anspielung darauf gemacht. Im weiteren Gespräch wurde immer deutlicher, dass der Mann Augen und Ohren verschlossen hatte gegen die Vorboten des Ehebruchs, ja dass er selbst ein Arrangement getroffen hatte, das wie eine geheime Erlaubnis erschien. Er wehrte sich heftig gegen dies Eingeständnis und war einem empörten Ausbruch nahe, der zum Abbruch der Sitzung hätte führen können, als die Kinder erneut erschienen und sich jetzt ihm zuwandten. Diesmal waren beide Eheleute darin einig, dass es sich weder um blinden Zufall noch um eine im Wartezimmer selbst ausgelöste Angst der Kinder handeln konnte. Tatsächlich waren sie ja beide Male gekommen, als es Anlass zur Sorge um die Eltern gegeben hatte. Danach erschienen die Kinder übrigens nicht mehr, sondern zeigten sich sehr ruhig und waren gewissenhaft darum bemüht, das Wartezimmer in einwandfreiem Zustand zu hinterlassen. So etwas geschieht erfahrungsgemäß nur dann, wenn Kinder mit dem Verlauf einer Sitzung zufrieden sind. Es ist ihre Art, einem Therapeuten ein Kompliment zu machen.
Auch diese Schilderung gibt nur eine von ungezählten anderen Erfahrungen wieder, die jeder Therapeut machen kann, wenn er Eltern und Kinder gemeinsam sieht, und die allesamt den Gedanken nahelegen, dass Kinder sich ganz ähnlich verhalten wie Haustiere: Sie bemühen sich nach Kräften, ihren Eltern zu helfen und etwas Bedeutsames für diese zu tun. Es scheint, als wollten sie im Dienst der Eltern nichts anderes als gut sein und als nähmen sie dabei keine Rücksicht auf ihr eigenes Wohl. Wenn zum Beispiel ein Vater sich mit starken Schuldgefühlen trägt, weil er seinen eigenen Vater verletzt und im Stich gelassen hat, dann erweist sich sein halbwüchsiger erster Sohn als ein Ausbund an Frechheit und als schamloser Provokateur. Schaut man sich die Situation des Mannes an, der als letzter von sechs Söhnen den eigenen Vater verlassen hat, um ins Ausland zu gehen, dann scheint sogar hier eine verborgene „Güte“ im Verhalten des Sohnes auf: Was dieser tut, geschieht vielleicht, um seinem Vater zu geben, was dieser im tiefsten Innern von seinem Vater erwartet, aber nicht bekommen kann. Das wäre ein fünftes Beispiel, das ich aber nicht erlebt, sondern nur einem betroffenen Klienten gegenüber gedeutet habe - mit dem Erfolg, dass dieser Mann eine von seinem Sohn erzeugte unerträgliche häusliche Situation rasch zur Zufriedenheit aller Beteiligten ändern konnte, ohne dafür mehr und anderes zu tun, als liebevoll an seinen eigenen Vater zu denken.
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