Im vierten Kapitel stelle ich in zunächst systematischer Form die Früchte vor, die sich als praktisch-therapeutisch anwendbare Erkenntnisse aus einer konsequent biografischen Methode ergeben. Es geht dabei - parallel zum zeitlichen Leitfaden - um den Bezug auf wichtige Andere, der uns in eine Fremdheit uns selbst gegenüber versetzt. Dies Kapitel gibt Antworten auf die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten der Übertragung von Stellvertretungsfunktionen, die zu bestimmten Zeiten in Familien stattfindet: Wo ist der Ort, an dem ein Mangel aus der Vergangenheit einer Familie zur Geltung gelangt, wenn er sowohl intrafamilial als auch transfamilial als übertragene Verantwortlichkeit nachwirkt? Wie findet man diesen Ort, und mit welcher Methode kann man von der Wirkung eines Schulderbes auf den Ort der Schuldentstehung zurück schließen? Thema ist hier eine Rangordnung des leiblichen Bindungsgeschehens, die ich als Stellvertretungsordnung bezeichne.
Das fünfte Kapitel überschreitet den scheinbaren Formalismus des fünften und bietet Ansätze, um sich der besonderen Tragik und Dramatik jener typischen Lebensthemen anzunehmen, die sich als die aus speziellen kindlichen Stellvertretungsfunktionen resultierenden Kernkonflikte der Persönlichkeiten darstellen. Gegenstand sind hier die in ihren Ursprüngen schwierig zu diagnostizierenden und in ihren zähen Symptomatiken schwierig zu behandelnden Komplikationen des leiblichen Stellvertretertums. Diese ergeben sich dadurch, dass die primär spielerische Zuordnung von transgenerational übertragenen Verantwortlichkeiten infolge des Fehlens von primären Stellvertretern allzu früh in einen bitteren Ernst des Lebens umschlägt. Das hat eine Überlastung der ursprünglich liebevollen Beziehung zwischen Eltern und Kindern zur Folge und führt zu nachhaltigen, zuweilen lebensbedrohlichen, häufig lebenslangen, situationsabhängigen Beschwerdebildern.
Das sechste Kapitel vermittelt einen konkreten Einblick in die spontane Ausprägung und Zuordnung von Stellvertretungsfunktionen. Thema ist deren konstitutive Vergeblichkeit samt den daraus resultierenden symptomatischen Komplikationen der Ohnmacht. Hier wird die räumliche Dimension der Lebensordnungen zum Schwerpunkt der Untersuchung, auch wenn der zeitliche Aspekt nicht verloren geht. In diesem Kapitel wird gleichsam sinnlich nachvollziehbar, wie das gesetzmäßige Scheitern von Stellvertretungsfunktionen sich anfühlt und erlebt wird. Das siebte Kapitel zeigt auch auf, wie die primären transgenerationalen Gebundenheiten sekundär in transfamiliale Bindungen umschlagen und wie auch die letzteren nach phänomenologischen Methoden aufgeklärt werden können. Dies Kapitel illustriert die Ursprünge der Vorstellung, dass die Welt der Leiber eine Welt des Theaters und das Leben ein bloße Bühne sei. Aber doch bleibt es das Ziel meiner Untersuchungen, Wege aus einer Welt des verwirrenden Scheins zu finden. Es soll sich darin zeigen, dass es in ernsten Situationen nicht nur nötig sondern auch möglich ist, innerhalb des Reichs der Lebenden von der Bühne abzutreten.
Der dritte Teil soll das geheimnisvoll Andersartige der biografischen Betrachtungsweise im Zusammenhang darstellen und den Unterschied der dabei ins Auge fallenden Gesetzmäßigkeiten im Vergleich zu physikalischen Gesetzen herausarbeiten. Er wird im siebten Kapitel mit einer kursorischen Rückbesinnung eingeleitet, um zu erkunden, welche Bedeutung dem Tod und den Toten in verschiedenen Entwicklungsstufen bisheriger biografischer Forschung eingeräumt worden ist.
Das achte und letzte Kapitel ist eine kritische Bestandsaufnahme jenes biografischen Wissens, das sich unter Beachtung familialer, transgenerationaler Gebundenheiten ergibt. Die Leitfrage lautet: Wodurch erheben sich Krankengeschichten über jede mögliche naturwissenschaftliche Darstellung von Wirkzusammenhängen? Sigmund Freud hat zwar eine heiße Spur des Leibhaftigen verfolgt, als er mythischen Gestalten, wie Narziss und Ödipus, eine zentrale Bedeutung verlieh. Er hat jedoch mit der psychoanalytischen Triebtheorie die leibliche Haftung in einer Weise ausgeschaltet, als wollte er das theologische Dogma endgültiger Getilgtheit der menschlichen Erbschuld allzu umstandslos bestätigen, indem er es durch materialistische Heuristik ersetzte. Demgegenüber entfalte ich einige Schlussfolgerungen, die sich aus dem biografischen Forschungsansatz für das Schuldproblem ergeben. Würde man das letzte Kapitel des Buches schlicht philosophisch nennen, so wäre ich nicht einverstanden, denn ich teile die Kritik Viktor von Weizsäckers an der philosophischen Tradition: Diese wolle allzu oft ewige Weisheit erlangen, ohne sich dem Leiden am konkreten historischen Prozess der Menschheit zu stellen, und das eben sei nicht möglich.
Alle acht Kapitel kreisen um die Frage nach dem Gesetz, das dem Leben der Menschen vorgibt, was in dieser Welt und in diesem Zusammenleben eines Menschen mit dem Anderen als Ordnung (Kosmos) oder was als Unordnung (Chaos) zu verstehen ist. Die Ordnungsprinzipien von Raum und Zeit lassen sich nicht auf anatomische und physiologische, d.h. auf Kategorien materieller, an sich bedeutungsloser Veränderungen reduzieren, ohne dass die Würde des Lebens, die Schönheit der Welt, die Wahrheit der Geschichte und die Güte des Menschen verloren ginge. Das zu erkennen, ist der Kern der notwendigen Kritik an der Vorläufigkeit bisheriger therapeutischer Terminologien, wie sie aus der Psychoanalyse Freuds direkt und indirekt erwachsen ist. Und die Überwindung dieser falschen Denkrichtung ergibt sich erst dann, wenn die leibliche Teilhaftigkeit des Lebens unter den Gesichtspunkten leiblicher Ordnungsprinzipien erkannt wird. Diese Prinzipien erschließen sich in ihrer symbolischen Tiefe, d.h. gewissermaßen „tiefenpsychologisch“, wenn man sie anhand geschichtlicher Bezüge zwischen den großen Verbindungen und den großen Trennungen im Leben eines jeden einzelnen Menschen wahrnimmt.
Die Fragen, die diesem wissenschaftlichen Programm einer ärztlich orientierten Biografik entsprechen, sind von Viktor von Weizsäcker erstmals mit allem Nachdruck gestellt worden. Er fragte angesichts existenzieller Lebensereignisse, vor allem angesichts von Erkrankungen: „Warum gerade jetzt?“, „Warum gerade hier?“ und „Warum gerade so?“ (Ges. Schriften Bd. 7, 366 ff) Es geht dabei um die Klärung zeitlicher, räumlicher und formaler Ordnungen, die dem inneren und äußeren Frieden dienen. Dieser Frieden nämlich zeigt sich bereits in der Gestalt von Erkrankungen gestört. Und es erweist sich als hilfreich, Erkrankungen überhaupt als Erscheinungen unserer Leibhaftigkeit, der Haftung und der Verhaftetheit unserer Leiber aufzufassen. Darin liegt kein Ansatz zum Bruch naturwissenschaftlicher Gesetze, sondern ein Ansatz zur Vertiefung unseres Verständnisses für die Gesetzmäßigkeit des Lebensstroms, in dem wir uns bewegen, in dem wir zwar treiben und getrieben werden, in dem wir aber auch zu schwimmen, ja sogar zuweilen Grund unter die Füße zu bekommen lernen.
Die drei großen Fragen Weizsäckers betreffen sowohl die beiden formalen Kriterien als auch das inhaltliche Kriterium, um die familienbiografischen Zusammenhänge von schicksalhafter Verstrickung und Krankheit aufzuklären:
Die Frage „Warum gerade jetzt?“ ist zu konkretisieren, indem man sie auf die Relationalität der am Krankheitsgeschehen Beteiligten bezieht und deren Altersrelationen errechnet.
Die Frage „Warum gerade hier?“ ist zu konkretisieren, indem man sie auf die als Stellvertretungsfunktion der am Krankheitsgeschehen Beteiligten bezieht und deren virtuelle Positionen innerhalb der Stellvertretungsordnung ihrer Familien bestimmt.
Die Frage „Warum gerade so?“ ist zu konkretisieren, indem man sie auf die Komplementarität bezieht, die den am Krankheitsgeschehen Beteiligten auferlegt ist, und den nachwirkenden Mangel aufspürt, dessen frustranem Ausgleich die Symptomatik gewidmet ist.
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