Der junge Sklave, sein Name ist Mbopo - wie mir der schmierige Holländer erzählte, er sei er eine „Art Prinz“ - zeigt plötzlich auf mich und ruft mir zu: „Weißer Master, unsere Götter des Waldes werden mir beistehen. Sie sind starke Götter, stärker als eure Götter. Sie sind Götter der großen Mutter Natur, der Ala, die alles Leben erschuf. Die Vormenschen ebenso, wie mich und Dich auch, Master. Ala repräsentiert den zweifachen Aspekt unserer Welt: Fruchtbarkeit und Tod. Sie wird oft als „Große Mutterschlange“ dargestellt und wird vom Volk der Igbo als Mutter aller Dinge verehrt.“
Ich staune über die gepflegte Wortwahl des Wilden, der sehr selbstbewusst auftritt. Der Gefangene schließt seine großen, dunklen Augen, so, als wolle er beten. Neben dem jungen Mann steht ein kleines Mädchen, nur mit einem dünnen Hemdchen bekleidet. Tränen rollen über das hübsche Gesicht der Kleinen. Vorsichtig ergreift sie die Hand des Jünglings und zeigt in meine Richtung. Sie lächelt dabei zaghaft. Die Mitgefangenen summen leise ein Lied. Der gut aussehende Sklave ist offenbar ihr Bruder oder ihr Vater. Das Mädchen sagt etwas, was ich nicht verstehen kann. Behutsam streichelt Mbopo mit seiner linken Hand über das wie Seide glänzende Haar des Kindes. Die rechte Faust hält er geballt.
Der Gefangene ruft mir kurz danach zu: „Master Drake, ich war Sklave bei den Holländern und spreche daher Eure Sprache ein wenig. Ich konnte von einem Sklavenschiff entfliehen, erreichte schwimmend, aber total erschöpft das Ufer und kehrte als einer der vielen Söhne unseres Königs Ngwalla wieder zu meinem Stamm ins Königreich Nri zurück. Nun bin ich erneut gefangen worden, weil wir von den Anführern unseres eigenen Volkes, meinen neidischen Brüdern, verkauft worden sind. Von gemeinen, goldgierigen Verrätern! Das ist eine große Enttäuschung für mich, von den eigenen Brüdern in die Sklaverei verkauft zu werden, nur weil ich stark bin, nur weil ich König werden soll, eines Tages, wenn der große Ngwalla gestorben ist und bei den Göttern lebt. Aber die große Gottesmutter wird sie bestrafen! Ala wird mich rächen! Aber ich frage mich: Was maßt Ihr Euch an, Master aus England, uns zu jagen wie ein Stück Wild? Wir sind ein freier, ein stolzer Stamm aus königlichem Geschlecht.“
Jan Hendrik van Breukelen, der in meiner Nähe steht, auf seinen arabischen Krummsäbel gestützt, grinst über sein breites, vom Rum gerötetes Gesicht. Was für ein Abschaum, denke ich angewidert. Der dicke Holländer schwitzt. „Dieses Negerpack wird immer frecher“, ruft er empört. „Die Burschen werden gleich meinen Ochsenziemer zu spüren bekommen. Niemand wird hier entweichen. Niemand. Die Sklaven gehören jetzt Euch, Kapitän Drake. Ihr müsst sie nur noch nach Amerika bringen für die Zuckerrohr-, Tabak- und Baumwollplantagen. Dann blüht Euer Geschäft . . .“
Der kleine, asketisch wirkende Jesuitenpater, dessen Spitzbart das flache Kinn verdeckt und nervös neben mir steht, mischt sich ein und meint angewidert: „Da seht Ihr es, Kapitän Drake, was die wilden Heiden ausmacht: Arroganz und Falschheit. Vor uns, den Missionaren, liegt noch ein großes Stück Arbeit, bis wir diese Kinder Gottes dem wahren christlichen Glauben, dem römisch-katholischen natürlich, zugeführt haben. Mit Fleiß und Strenge werden wir das erhabene Ziel Roms erreichen. Afrika und Amerika werden sicher katholisch . . . ist das nicht wunderbar? Außerdem hat unser noch junger Orden, dessen Name Societas Jesu lautet, im Grunde nichts gegen den Einsatz von schwarzen Sklaven, eben auch in unseren inzwischen überall in der Welt gegründeten Ordenshäusern. Im Gegenteil.“
Ich sehe in den kalten Augen des etwa vierzigjährigen Jesuiten, der dem neuen, militant geführten Orden angehört - Chef ist ein Generaloberer - der im Jahre 1534 von Ignatius von Loyola gegründet worden war, eine Spur von Übereifer. Fra Julius Borromäus, so nennt er sich, ist ein widerlicher Fanatiker, dem ich – ich bereue es schon jetzt – gestattet habe, die Reise mit den neuen Sklaven auf meinem Schiff nach Amerika zu begleiten. Er stamme als einer von mehreren Brüdern aus einem irischen Adelsgeschlecht in der Nähe von Rockfleet, so antwortete er auf meine Frage nach seiner Herkunft. Was treibt diesen Mann in die neue Welt? Er wolle, so erklärte er mir vor ein paar Tagen in einem ersten Gespräch, in der Neuen Welt das Wort des Salvators Jesu in einer Art Gegenreformation – also gegen Martinus Luther - den Ungläubigen predigen: „Und die christlichen Gebote und Sitten mit den Regeln eines absoluten Gehorsams abverlangen.“ Und im Übrigen sei der atlantische Sklavenhandel inzwischen seit 1500 üblich: Afrikaner würden in Afrika gekauft, mit Schiffen von Afrika nach Amerika – hier besonders zunächst zu den Inseln in der Karibik - transportiert und dort weiterverkauft. Die meisten dieser Schiffe befänden sich im Besitz von christlichen Europäern. Und überhaupt: In der Antike seien Sklaven gar nicht wegzudenken gewesen: „Von der Antike bis zur Gegenwart haben Menschen in unfreien Lebens- und Arbeitsverhältnissen gelebt. Sämtliche Hochkulturen kannten die Sklaverei. Und auch heute ist die Sklaverei wieder in allen Teilen der Erde verbreitet. Sie breitet sich aus wie eine Epidemie – zu unserem Wohl!“
Mit lauter Stimme meint dieser „Christ“ weiter: „Kapitän Drake, da die einheimische Bevölkerung auf den Inseln der Karibik und in Mittel- und Südamerika bereits kurz nach Beginn der Kolonisierung durch die Spanier so gut wie ausgerottet war, benötigen die neuen Kolonialherren andere Arbeitskräfte für ihre Plantagen. Sie fanden und finden sie in den Bewohnern Westafrikas. Tausende Afrikanische und asiatische Kulis wurden lebend nach Amerika verschleppt. Tausende werden noch folgen. Ich gebe zu, die Brutalität dieses Handels stand der Grausamkeit des Plantagenalltags in nichts nach. In den Augen der Europäer hatten Afrikaner gegenüber den verbliebenen Indianern einen erheblichen Vorzug, der ihre Versklavung rechtfertigte. Letztere waren zum Christentum bekehrt worden, die Afrikaner aber waren und sind, wie wir ja hier und heute erleben, Heiden. Dumme, freche, aber starke Heiden. Gut für die Arbeit. Beten und arbeiten – das ist ihr Schicksal in der Neuen Welt! Als Heiden haben sie keine Religion, jedenfalls die falsche, sie besitzen deshalb auch keine Moral, keine Kultur, keine Menschlichkeit. Weil sie daher ihrer Natur nach wie Tiere sind, kann man sie auch auf den Zuckerrohr-, Tabak- und Baumwollplantagen wie Tiere ausbeuten. Um ihre Herrschaft über die Feld- und Haussklaven zu installieren und aufrechtzuerhalten, versuchen die Gutsherren, neu auf die Inseln gebrachte Afrikaner systematisch ihrer persönlichen, sozialen und kulturellen Identität zu berauben. Sklaven erhalten von ihren Herren neue, oft demütigende Namen wie „Nigger“, „Miss Piggy“, „Kaffer“, „Snowman“ oder „Bimbo“. Sie dürfen keine Ehen schließen, keine Familien gründen. Es ist ihnen nicht erlaubt, sich zu versammeln, ihre Religion auszuüben, zu trommeln und zu tanzen. Sklaven, die miteinander verwandt sind, der gleichen ethnischen Gruppe angehören oder dieselbe Muttersprache haben, werden voneinander getrennt. Sie sind, wie es so schön heißt, kaum menschliche, sondern auch sozial tote, nur für die Arbeit in Diensten der weißen Herrenrasse geborene Wesen.“
Die letzten Worte spricht der Jesuit mit lauter Stimme, seine Augen glühen vor fanatischem Eifer, Speichel läuft ihm das Kinn herunter. Ich denke: ein Verrückter! John McFinn meint leise zu mir: „Ich erwürge diesen Kerl heute Nacht. Der wird unser Schiff niemals betreten.“
Natürlich kenne ich Schilderungen über die brutale Ausbeutung der Sklaven durch den weißen Mann, die sexuellen Übergriffe auf die schwarzen Mädchen und Frauen, das Foltern und sadistische Gehabe der Farmer. Ich heiße das nicht gut, im Gegensatz zu diesem Pater. John hat recht: Er darf die neue Welt nicht betreten, beschließe ich insgeheim.
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