10. November 1590, ein bedeutender Tag
„Die Zeit ist aus den Fugen geraten, meine Herren!“
Königin Elisabeth schreit den Satz, den sie aus dem neuen Theaterstück „Hamlet“ unseres gemeinsamen Freundes William Shakespeare zitiert, geradezu heraus. Ich erkenne ihr Engagement an ihrem wütenden Gesichtsausdruck: Energisch, ichbezogen, zielbewusst und unmissverständlich, ja, kämpferisch. Erwartungsvoll blickt sie mit ihren funkelnden grünen Augen in die Runde. Sie ist sich ihrer Wirkung bewusst: Jeder Zoll eine von sich überzeugte Königin! Ihr Temperament geht wieder einmal mit ihr durch, denke amüsiert und bewundere ihre Kunst, Menschen begeistern zu können. Ich sehe, dass sie heute den Startschuss für eine große Entwicklung ihres Reiches abfeuert, ein Salut für eine Vision, die die Welt verändern wird. Irgendwie spüren wir das an diesem Tag alle. Niemand der Anwesenden Herren sagt ein Wort. Das Schweigen ist bedrückend. Ich muss lächeln: Heute kommt die Herrscherin mir besonders willensstark vor. Sie weiß, dass sie auf einer guten Basis steht, was ihre bisherige Regierungsbilanz betrifft: Trotz vieler Kritikaster ist ihrer Regentschaft eine große Glanzperiode beschieden. Die Brutalität der Justiz und der daraus folgenden Urteile, die gnadenlosen öffentlichen Hinrichtungen – oft eine Belustigung für das gaffende Volk - sind dagegen blutiger Alltag, sie regen niemanden mehr auf, solange das eigene Leben einen gewissen Luxus aufweisen kann. Handel und Gewerbe, Schifffahrt, aber auch Wissenschaft, Kultur, Kunst und Literatur entwickeln sich zu einer überreichen Blüte. Wer hatte das von dieser Frau, die bis zu ihrer Krönung von der eigenen Schwester, der katholischen Königin Mary Tudor, im Tower gefangen gehalten wurde, erwartet? Der Tod der „blutigen“ Mary, wie sie voller Hass gerufen wurde, machte erst den Weg frei für den Aufstieg der geschulten, talentierten Prinzessin zur Königin Elisabeth I. Der Tod der hassgesteuerten Schwester und die darauffolgende Inthronisation sorgten in England selbst, aber auch auf dem Kontinent für heftige Diskussionen. Manch ein Potentat lachte insgeheim, doch schon recht bald wurde er eines Besseren belehrt: Elisabeth regierte mit harter Hand, schnell hatte sie den Spitznamen „Eiserne Lady“.
Das Zentrum London ist unter ihrer Machtfülle eine Stadt mit nun über 300 000 Einwohnern geworden. London ist ein Magnet, ein Moloch. Die Landbevölkerung zieht es in die Metropole an der Themse. Hier florieren die Kaufläden, die Handwerksbetriebe, die Kneipen und Gasthöfe, die Börse, eine expandierende Messe und rund fünfzehn kleine Theater. Die Universität lockt die Jugend aus ganz Europa an, die Straßen sind keine Schlammwege mehr, sondern sind gepflastert, die Wasserversorgung, auch durch meinen Erfolg als Bürgermeister in Plymouth bestärkt, wird durch hölzerne Leitungen reguliert, es gibt eine bessere Beleuchtung der Straßen und Plätze durch große Öllampen, außerdem ist jeder Bürger verpflichtet, vor seinem Haus Öl-Laternen aus Holz oder Eisen aufhängen, die vom Fett der Wale gespeist werden. Das dunkle Zeitalter ist beendet. Und die Feuerwehr, die die Königin gründete, hat die Brände schnell im Griff. Es gibt eine Reihe von berühmten Schulen, Apotheken, Druckereien und Büchereien. Reiter, Sänften, Kutschen und Fußgänger bevölkern die Straßen und Plätze – London mausert sich zu einer europäischen Metropole. Die Kleidung des Bürgertums ist festlich, geschmackvoll und teuer.
Ein neues Genussmittel ist der Konsum von Tabak, den die Spanier aus ihren Kolonien auch auf unsere Insel gebracht haben. Ich erinnere mich, wie wir mit der ersten Ladung nach London kamen – hier wird das Kraut nicht als Zigarre geraucht wie bei den Indios, sondern in Pfeifen aus Ton und Holz. Und die Bildung innerhalb der Hauptstadt hat ein recht hohes Niveau erreicht, was niemand für möglich gehalten hatte. Man spricht schon von einer englischen Renaissance. Natürlich hat die Explosion der Bevölkerung auch die negative Flamme der Gewalt, der Morde, der Diebstähle und Betrügereien entfacht. Banditen, Schmuggler und Abenteurer zieht es nach London, so dass die Wachsoldaten viel zu tun bekommen. Die Anzahl der Morde steigt.
Ich lächele in Richtung der Königin, die mir nun leicht zunickt. Unbemerkt von den Anwesenden hebe ich den Daumen meiner rechten Hand. Ich verstehe, warum das englische Volk seine Königin so verehrt, richtiger, geradezu liebt. Unter ihrer Regentschaft – „mein Ehegemahl ist mein Königreich“ - blüht das oft zerstrittene Land, zerstritten durch blutige Glaubenskriege, Machtgelüste und Neid auf die spanischen „Goldländer“ in der Neuen Welt, wieder auf. Der Handel sorgt dafür, das Englands Schulden abgebaut werden, die militärische Präsenz steigt und neue Pläne werden geschmiedet, die ein neues, großes, goldenes Zeitalter verheißen: Ein englisches Zeitalter, das die Vorherrschaft der allmächtigen Habsburger, die als Regenten von Österreich, Burgund, den Niederlanden, als Könige von Spanien/Portugal und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen ab dem 13. Jahrhundert bis in unsere Tage hinein die Geschicke Europas sehr stark bestimmen, beenden will. Und das schon jetzt einen Namen hat: Das Elisabethanische! Doch dieser spontane Ausbruch jetzt zeigt mir, wie ernst die Königin das meint, was sie sagt. Dass sie mir ein verstecktes Augenzwinkern gönnt, freut mich, denn ich bin seit längerem in ihre Pläne eingeweiht. Was viele der anwesenden Herren ahnen, jedoch nicht wissen können.
Ich bewundere dieses gertenschlanke Weib, das die Disziplin, die man so allgemein Staatsraison nennt, über ihre geheimen Leidenschaften und Sehnsüchte stellt. Wie schafft sie das nur? Denn auch bei Elisabeth glühen im Inneren Leidenschaft und Begierde, auch wenn sie das offiziell nie zugeben würde. Ich Grunde ist sie eine leidenschaftliche Frau, die nach außen hin so kühl und gelassen wirkt. Aber ich weiß es besser!
Die Königin stampft mit ihren übergroßen Füßen wütend auf den roten Sandsteinboden. Vor Aufregung zittern ihre schlanken Hände. Ihr weiß gepudertes Gesicht unter den wie Kupfer schimmernden Haaren ist von einer zornigen Röte überzogen. Die Königin hat beide Hände hochgerissen, um ihren Worten noch mehr Gewicht zu geben. Dann blickt sie fragend in die Runde. Die Anwesenden zucken zusammen und blicken sich neugierig um. Sie kennen die spontanen Ausbrüche der Herrscherin, doch diesmal ist es anders als sonst: Die Königin des britischen Reiches beendet damit eine zweistündige geheime Konferenz, an der ich – neben weiteren engen Vertrauten - teilgenommen habe.
Wir tagen in einem kleinen, sparsam eingerichteten Kabinett des Greenwich-Palastes, das nur mit einem runden Tisch und acht Stühlen möbliert ist und an den Wänden vier Ölgemälde aufweist: König Heinrich VIII., ihren Vater, Anna Boleyn, ihre Mutter, ihre Schwester, die verstorbene Königin Mary Tudor und ihr eigenes königliches Porträt mit dem hervorstechenden Wappen, das von einem Löwen und einem roten Drachen eingerahmt wird. Der Blick aus dem bleiverglasten Fenster gibt einen sehr guten Eindruck von der breiten, träge dahin fließenden Themse wieder, auf der heute, trotz des Nieselregens, ein reger Schiffsverkehr herrscht: London erfreut sich einer zunehmend positiven Handelsbilanz.
Ich höre ihre Worte noch, die sie uns vor einigen Minuten sehr eindringlich sagte: „Ich erinnere Sie an den 19. Mai 1588, als unsere Feinde ihre Armada als die „Unbesiegbare“ bezeichneten. Eigentlich lautet ihr Name aber „Grande y Felicísima Armada", etwa „Die große und vom Glück begünstigte Kriegsflotte.“ Als die Schiffe am 19. Mai in Lissabon ihre Segel setzen, glaubten viele Zeitgenossen, die Tage der englischen Königin seien gezählt. Es kommt anders: Die Hälfte der 130 Schiffe geht im Orkan vor der schottischen und irischen Küste unter. „Gott blies, und sie wurden zerstreut", nannte ich damals das Ereignis. Und Philipp rechtfertigte sich: „Ich sandte meine Flotte gegen Menschen aus, nicht gegen die Wellen und den Wind.“ Uns kam 1572 in den spanischen Niederlanden eine Rebellion sehr zu Pass, die Philipp nicht unterdrücken konnte. Er frohlockte damals: „Uns gehört die Neue Welt! Unsere Schiffe tragen die spanische Flagge über vier Meere. Unsere Armeen ziehen durch Afrika, den Nahen Osten, den fernen Westen. Überall sind wir siegreich und unverwundbar. Aber nicht vor den eigenen Toren.“ Ich entsandte 1585 Truppen in die Niederlande, um den Protestanten zu helfen - und Philipp reagierte prompt, unser Reich anzugreifen. Er schrieb damals: „Nur die Niederlande wagen zu widerstehen. Der Grund ist eine dunkle und kalte, nebelige Insel. Genauso verräterisch und kalt wie ihre Königin."
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