Am liebsten hätte ich ihn per Tritt in den Hintern zur Tür raus befördert. Statt dessen wiederhole ich: „Nein, mir geht es darum, dass Künstler immer Grenzen überschreiten, jeder Schritt vorwärts führt auf unbekanntes Terrain.“
„Nun, in der heutigen Zeit... da seid ihr Künstler mit diesem Gefühl der Unsicherheit nicht allein.“
Warum will er immer alles auf einen einzigen Begriff reduzieren? Oder vielmehr: Auf die Krise im Tätigkeitsfeld seiner Wahl? Ich hole Luft für eine Erwiderung, doch er lässt mir keine Zeit für eine weitere Klarstellung, sondern zieht einen Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts — womit er, wie ich inzwischen weiß, seinen Abgang ankündigt. Statt ihm seine milde Gabe abzunehmen, hole ich Packpapier, um das Bild einzuschlagen. Mein Honorar wird er schon irgendwo deponieren.
Er verabschiedet sich mit den Worten: „Tschau, Stella. Man sieht sich.“
Stella — diesen Namen verdanke ich tatsächlich meinen Eltern. Stella... als hätten sie all ihre Träume von einem ganz anderen Leben in ein einziges Wort gepresst — um sie dann wie eine Konserve ganz weit hinten im Schrank zu verstauen. Denn meine Eltern sind ganz durchschnittliche, normale Leute. So sehr normal, dass ein aus ihrem engen Rahmen fallendes Kind für sie etwas absolut Schreckliches ist. Um dieser Möglichkeit einen Riegel vorzuschieben, haben sie sich redlich bemüht, mir die Flügel zu stutzen. Lange Zeit habe ich brav versucht, mich möglichst unsichtbar zu machen und bin nur durch's Leben geschlichen — bis sich meine rebellische Seite einfach nicht länger unterdrücken ließ. Was zur Folge hatte, dass ich aus ihren engen Grenzen ausgebrochen bin, und das gleich in viele Richtungen. Vermutlich fragen sie sich immer noch, womit sie so etwas verdient haben.
Diese Frage allerdings stelle ich mir auch gerade — nach einem Blick in den Umschlag. Dabei ist genau das drin, was zu erwarten war: Die vereinbarte Summe, und kein klitzekleiner Schein mehr. Klar, ich sollte mich einfach freuen. Aber irgendwas an diesem Typ macht mich wütend. Mister Banker — nein, nicht sein Name, sondern sein Beruf — behauptet von sich, Objekte zu sammeln, in denen er Potential sieht. Was vermutlich bedeutet: Er kauft sie billig ein, als Geldanlage — und kann sich obendrein als Gönner unbekannter junger Künstler aufspielen. Vermutlich wäre er großzügiger, wenn ich auf seine ewigen sexuellen Anspielungen eingehen würde. Aber wer weiß — vielleicht würde er sich prompt der nächsten noch zu entdeckenden Malerin zuwenden?
Könnte auch sein, dass er mir längst den Stempel „egozentrische Künstlerin“ aufgedrückt hat und seine Versuche, mich rumzukriegen, nur noch Gewohnheit sind. Was er nicht versteht: So ein richtiger kreativer Höhenflug — der ist wie ein Orgasmus. Mit dem Unterschied, dass frau nicht auf einen halbwegs einfühlsamen Partner angewiesen ist. Es gibt genug Leute, für die Sex etwas rein Körperliches ist, nicht viel anders als Joggen bis zum Exzess. Die haben kein Problem damit, sich bei anderen ihren Kick zu holen. Ich habe definitiv keine Lust, mich auf diese Weise benutzen zu lassen. Weshalb Mister Banker meinen Körper nicht als Dreingabe bekommt. Wenn's sein muss, gehört schließlich auch die Hungerkünstlerin zu meinem kreativen Repertoire.
Prompt meldet sich mein Magen. Eigentlich wollte ich noch ein paar Vorräte einkaufen, Lebensmittel und Farben. Aber für heute reicht's mir: Ich habe keine Lust, in Gedanken weiter um Geld oder Mister Banker zu rotieren. Also stopfe ich den Umschlag samt Inhalt in meinen Tresor in Gestalt einer verbeulten Teedose. Ist ohnehin bald Zeit für meinen Job, anderen Menschen ihr Essen zu kredenzen, ganz schlicht gesagt: Serviererin. Mies bezahlt, aber immerhin gibt’s ein bisschen zusätzliches Trinkgeld. Das Beste daran sind die Mahlzeiten, die ich gratis bekomme. Weshalb als Imbiss, bevor ich mich auf den Weg mache, ein Apfel genügen muss.
Gut, seine Teufel zu kennen
Geschafft. Nicht nur mein Job ist für heute überstanden — ich selbst bin auch fix und fertig, ganz besonders meine Füße. Heute war so viel los, dass mir nicht mal Zeit blieb, mich zwischendurch an der Salat-Bar zu bedienen. Als ich mich vor meiner extra großen Portion Hühnerbrust mit Fenchel und Reis niederlasse, fühle ich mich zu erschöpft zum Essen. Das einzige, was ich in diesem Moment genieße, ist der Kontakt von Hintern mit Sitzfläche.
„Was denn — keinen Appetit?“ fragt Elli mit vollem Mund. „Dir müsste doch schon längst der Magen knurren.“
„Ja, wie ein Panther.“
Sie lässt ihre Gabel sinken, auf der sie ein Stück von ihrem Steak aufgespießt hat, und schüttelt den Kopf. „Was dir immer für Vergleiche einfallen.“
„Vielleicht, weil ich heute mal wieder ein Bild verkauft habe.“
Was der Panther mit dem Bild zu tun hat, scheint Elli nicht zu interessieren — sie hat etwas ganz anderes im Sinn: „Hey, da könnten wir doch endlich mal zusammen shoppen gehen! Du wolltest dir doch schon längst ein paar neue Treter gönnen.“
Jetzt bin ich dran mit Kopfschütteln: „Erstmal muss ich die Vorräte in meiner Küchen ein bisschen aufstocken. Und was dann noch bleibt, brauche ich für Material.“
„Also, wenn ich so leben müsste wie du, würde ich verrückt werden."
Auch wenn mir klar ist, dass Elli nur das Leben am Geldlimit meint, kann ich vor Lachen kaum antworten: „Verrückt bin ich schon. Davor brauche ich also keine Angst mehr zu haben."
Mein Gelächter hat eine positive Nebenwirkung: Wie eine frische Dusche spült es sämtliche Anspannung dieses Tages fort, und ich kann die Hühnerbrust genießen.
Die Art, wie mich meine bodenständige Kollegin beäugt, wirkt zwar wie eine Bestätigung meiner Aussage, doch ihr Kommentar ist das genaue Gegenteil: „Du magst ja manchmal sonderbare Einfälle haben — aber eigentlich kommst du mir ziemlich gesund vor. Mal abgesehen davon, dass du dich zu sehr einschränkst, deiner Kunst zu Liebe."
Tatsächlich hab' ich's sozusagen mit Brief und Siegel, in Form von Entlassungsgutachten aus der Psychiatrie. Aber wenn ich auch keinen schweren Ballast von felsenfesten Meinungen durch's Leben schleppe — von einer Sache bin ich überzeugt: Es ist gut, seine Teufel zu kennen. Wer vor ihnen die Augen zusammen kneift, sieht ja gar nicht, wie sehr sie das eigene Leben bestimmen. Wenn ich mich so umschaue, kommen mir die angeblichen Normalos dieser Welt (ein-schließlich VIPs, ob nun Stars oder Politiker) gestörter vor als ich. Würde man sie darauf aufmerksam machen — bestimmt wären sie zutiefst beleidigt. Und wenn ich schon beim Teufel bin: Nun... da sie weiblich ist, würde vielleicht Hexe besser passen? Die Hexe meiner Kindheit war definitiv meine Mutter. Nicht etwa eine dieser Märchenfeen, die mit einem Schwung ihres Zauberstabs einen Kürbis in eine Kutsche verwandeln können und einen Schmerz oder eine Furcht durch ein sanftes Lied zum Verschwinden bringen. Die wirkungsvolle schwarze Magie meiner Mutter bestand in ständigem Sich-Sorgen — und nicht etwa stillschweigend. Auf diese Weise gab sie sich redlich Mühe, all ihre eigenen Ängste in mich hinein zu stopfen. Klar, später blieb mir gar nichts anderes übrig, als ihr zu verzeihen. Allerdings noch nicht, als ich kapiert habe, dass diese Angst-Mästerei tatsächlich gut gemeint war, sondern erst, als ich verstand, dass das Weiterreichen ihre einzige Methode ist, um mit ihrem eigenen Kram klarzukommen. Ihre am meisten gehätschelte Überzeugung sieht offenbar so aus: Angst, und zwar in möglichst hoher Dosierung (vor Männern, dem eigenen Körper, davor, zur Zielscheibe von Klatsch und Tratsch zu werden, und so weiter und so fort...) ist genau das, was ein junger Mensch braucht, um für den Ansturm des Lebens gerüstet zu sein. Wenn du ständig das Schlimmste erwartest, kannst du nicht überrumpelt oder enttäuscht werden. Und doch habe ich es geschafft, sie zu enttäuschen.
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